15. Oktober 2018

Gesunde Aggression


„Sei doch nicht so aggressiv!“, wird mir vorgehalten -„Ich bin doch gar nicht aggressiv!“, erwidere ich. Und die aggressive Atmosphäre im Raum ist tatsächlich spürbar.

Aggression hat bei vielen Menschen einen schlechten Ruf. Aggression soll nicht sein - weder will ich sie mir vorhalten lassen, noch will ich tatsächlich so sein. Oder doch?

Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie von einem anderen Menschen verbal, körperlich, sozial, räumlich, emotional oder auch politisch bedrängt werden:
  • Ihre Mutter redet ohne Punkt und Komma auf Sie ein oder ein Nachbar verwendet beleidigende und verletzende Worte Ihnen gegenüber.
  • Der Mann im Bus steht unnötig dicht bei Ihnen oder ihr Gesprächspartner berührt Sie wiederholt in einer für Sie unangenehmen Weise.
  • Eine Bekannte möchte ständig mit Ihnen etwas unternehmen oder Ihr Kind fordert Sie zu einem für Sie nicht passenden Zeitpunkt mit Nachdruck wiederholt zum gemeinsamen Spielen auf.
  • Ihr Lebenspartner verstellt Ihnen den Weg aus der Küche, weil er Sie zu einem Gespräch zwingen will, oder jemand anderes drängelt sich an der Kinokasse vor.
  • Ihre Arbeitskollegin nutzt jede Gelegenheit, Ihnen von ihren privaten Problemen zu erzählen, oder irgendjemand verfolgt Sie mit seinen Liebesbekundungen, die Sie nicht erwidern wollen.
  • Politiker zeigen sich unverantwortlich hinsichtlich des Schutzes auch Ihrer natürlichen Lebensgrundlagen oder politische Gruppierungen missachten die für Sie unantastbare Würde Andersdenkender.
Der Andere beachtet und respektiert also nicht Ihre Grenze. Wenn Sie sich dadurch nicht nur bedrängt, sondern auch bedroht fühlen in Ihrer körperlichen und mentalen Unversehrtheit, taucht spätestens dann ein Gefühl des Ärgers oder der Wut auf. Ärger und Wut sind starke Signale dafür, dass irgendetwas in unserem Umfeld nicht richtig für uns ist. Wut ist die Energie, die unser Körper automatisch mobilisiert, um die Unstimmigkeit für uns wieder stimmig machen zu können. Und diese Wut drängt in Form von Aggression nach außen.

Aggression ist eine in uns angelegte Verhaltensweise. Alle unsere historischen Vorfahren haben Bedrohungen erfolgreich durch Aggression abgewendet und damit ihr Überleben und die Weitergabe ihrer Gene gesichert. Aggression ist also im Menschen als erfolgreicher Ausdruck einer grundsätzlichen Überlebensenergie angelegt und deshalb taucht sie auch in uns modernen Menschen immer wieder auf. Solange ich im Falle einer Bedrohung noch die Möglichkeit zum Handeln habe, werde ich mich verteidigen, angreifen oder  - auch das braucht ein gutes Maß an Aggression - flüchten. Und damit dies auch schnell und erfolgreich geschehen kann, sind diese Handlungsmuster in unserem autonomen Nervensystem fest eingeschrieben (siehe hierzu auch den Blogbeitrag über die Polyvagal-Theorie: Sicherheit und soziale Interaktion).

Aggression ist also grundsätzlich nicht schlecht, wenn sie denn tatsächlich mein Überleben sichert. Die Frage ist daher vielleicht nicht, ob Aggression sein darf, sondern welche Form und welches Maß an Aggression in welcher Situation sinnvoll und angemessen ist.

Unser Strafrecht ist da ziemlich klar: Wenn ich angegriffen werde und gegenwärtig in Not bin, darf ich mich wehren. Die Notwehr darf ohne Beschränkung der Mittel, also auch mit tödlicher Gewalt ausgeübt werden und bleibt straffrei. Bei der Notwehr ist jedoch ein Maß zu wählen, dass die Not zwar sicher beendet, aber keinen unnötigen Schaden anrichtet. Und die Notwehr muss sich auf etwas gegenwärtiges beziehen. Ist die Bedrohung im Hier und Jetzt nicht gegeben, kann es auch keine Notwehr geben.

Notwehr ist also eine für das körperliche und auch psychische Überleben notwendige Aggression, eine gegebenenfalls gravierende Aggression und eine legitime Aggression.

Und doch hat Aggression einen schlechten Leumund. Aggressive Kinder und Jugendliche bereiten zunehmend Sorge, aggressive Autofahrer stellen ein Problem im Straßenverkehr dar und aggressive Fußball-Hooligans oder Demonstranten sind kaum in Schach zu halten. Woran liegt das?

Aggression ist nicht gleich Aggression. Es gibt eine Aggression, mit der ich meine Grenzen verteidige, und es gibt eine Aggression, mit der ich den Raum des Anderen betrete und verletze oder die gegen mich selber gerichtet ist. Es gibt eine Aggression, die ich reguliere, eine Aggression, die sich in mich hineinfrisst, und es gibt eine Aggression, die explodiert und blind wütet. Nicht jede dieser Formen der Aggression ist gesund und akzeptabel!


Die gesunde Aggression ist eine positive Kraft, eine zielgerichtete Stärke. Die gesunde Aggression ist reguliert (siehe hierzu auch den Blogbeitrag Selbstregulation: Wieder zur Ruhe kommen). Sie ist Ausdruck meiner inneren Autorität („Das geht mit mir!“) und der Balance zwischen Selbstbehauptung und Respekt für den Anderen. Sie braucht die Klarheit des eigenen Wollens und den Mut, mit der notwendigen Energie dafür einzutreten, ohne über das Ziel der eigenen Unversehrtheit hinauszuschießen. In diesem Sinne ist auch die Notwehr eine Form der gesunden Aggression.

Wenn ich weiß, wer ich bin, was meine Werte, Bedürfnisse und Grenzen sind und Kontakt zu meiner inneren Autorität habe, wenn ich Bedrängen, Angriffen und Übergriffen rechtzeitig entschlossen, klar und mutig entgegentrete und mich gleichzeitig von der aggressiven Energie des Anderen abgrenze und den Respekt nicht verliere, dann bleibe ich im Feld der gesunden Aggression:
  • Hör auf, so mit mir zu reden!
  • Halte Abstand zu mir!
  • Meine Zeit bekommst du nicht!
  • Geh mir aus dem Weg!
  • Lass mich in Ruhe! 
  • Das kannst du mich betreffend so nicht länger machen!
So bin ich einerseits gefeit vor Unterwürfigkeit und Resignation, die Ausdruck einer zu geringen oder fehlenden Beachtung der eigenen Bedürfnisse und Grenzen sind. Anderseits kommt es dann nicht zu explosiver und dysfunktionaler Aggression, die planlos und unangemessen, unnötig zerstörend, vernichtend und übergriffig ist. 

Unterdrückte Wut und Aggression ist auf Dauer ungesund, weil sie die Aggression nach innen umleitet, unser gesundes Selbstgefühl beschädigt oder sogar zerstört, chronische Scham in uns aktiviert und uns körperlich und mental krank macht. Darüber hinaus kann es auch immer zu aggressiven Ausbrüchen kommen, die im Ergebnis dysfunktional sind. 

Es kommt also darauf an, sich selber kennen zu lernen, seine Bedürfnisse, sein Wollen, seine Grenzen. Es geht darum, ein mutiges Gefühl für sich selbst zu entwickeln und die Bereitschaft, sich entschlossen um sich selbst zu kümmern. Die Wut gibt uns dazu die Energie, die Selbstregulation die notwendige Klarheit. Gesunde Aggression verschafft uns auf diese Weise den notwendigen Respekt für unsere Person und zeigt immer auch grundsätzlichen Respekt für den Anderen, indem es ihn sein lässt, solange er unsere Grenzen und unseren Wunsch nach Unversehrtheit anerkennt.




Strafrecht-Blog: Wann liegt Notwehr vor und was ist Nothilfe?
https://www.strafrecht-bundesweit.de/strafrecht-blog/notwehr-oder-nothilfe/

4. Oktober 2018

Sicherheit und soziale Interaktion


Vielleicht gibt es nichts Schöneres, als Momente, in denen wir mit anderen Menschen freundlich, offen, entspannt und doch angeregt in Kontakt sind, einander gegenseitig sehen und ernst nehmen und persönlich wachsen können. Doch je nachdem sind diese Momente rar.

Warum ist das so?
Warum sind Menschen in Begegnungen mit Mitmenschen, egal ob in der Familie, am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Raum, zuweilen unfreundlich, abweisend, unzugänglich oder aggressiv? 
Wieso spielen Kinder im Kindergarten, auf dem Spielplatz oder mit den eigenen Geschwistern zu Hause manchmal nicht „einfach nur schön“ miteinander, sondern schubsen, schreien und schlagen?
Warum fangen Menschen in Alltagssituationen an, sich gegenseitig mit Worten oder Taten anzugreifen und zu verletzen? 
Wie kommt es, dass in Diskussionen keiner mehr dem anderen zuhört? 
Warum hagelt es in manchen Gesprächen nur noch Vorwürfe, Kritik, Drohungen und Anschuldigungen?
Warum vermeiden einige Menschen nach Möglichkeit jede Begegnung mit anderen Menschen?
Warum gehen erwachsene Menschen Gespräche mit Vorgesetzten und Kinder Gesprächen mit ihren Eltern aus dem Weg?
Warum werden Menschen manchmal in Gesprächen reglos, reagieren nicht mehr und tauchen irgendwie in ihrem Innersten ab?
Warum wenden sich Kinder mit gesenkten starren Blick ab, wenn sie von ihren Eltern oder auch Lehrern massiv gescholten werden?
Wie kommt es dazu, dass Lebenspartner nach einem Streit manchmal tagelang nicht mehr miteinander sprechen?

Wie der Mensch sich verhält, hängt entscheidend davon ab, ob er sich da, wo er ist, in der kleinen oder großen Welt, die ihn umgibt, in Situationen, die sich ergeben, mit Menschen, die ihm begegnen, und mit Aufgaben, die sich ihm stellen, spontan sicher oder unsicher fühlt.

In einer fremden Gesellschaft oder Kultur fühle ich mich vielleicht ein wenig unsicher, weil ich nicht verstehe, was um mich herum nach welchen Regeln geschieht. Habe ich durch ein Missgeschick den Anschluss an meine Reisegruppe verloren und die Dämmerung bricht herein, verspüre ich eventuell Angst. Wenn mir dann noch schreiende, wild gestikulierende dunkle Gestalten entgegenkommen, entsteht langsam Panik in mir. Und wenn die mich dann bedrängen und irgendetwas von mir wollen, was ich nicht verstehe, erstarre ich vor Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Diese Gefühle der Unsicherheit, Angst, Panik und Verzweiflung entstehen nicht auf der Ebene des Bewusstseins. Es sind keine Entscheidungen, die ich treffe, sondern Reaktionen meines autonomen Nervensystems auf das, was es wahrnimmt.

Der US-amerikanische Neurowissenschaftler und Professor für Psychiatrie Dr. Stephen Porges erklärt im Rahmen der von ihm entwickelten Polyvagal-Theorie, was dabei geschieht:



Unser Nervensystem registriert über die Sinnesorgane zu jedem Zeitpunkt, ob wir uns in einem sicheren, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Kontext befinden. Porges nennt dieses System der nichtbewussten Wahrnehmung „Neurozeption“. Es ist entscheidend für unser Überleben und deshalb reagiert unser autonomes Nervensystem blitzschnell auf diese neurozeptive, nicht-bewusste Wahrnehmung und Einschätzung, indem es den Körper über das sympathische, aktivierende oder parasympathische, beruhigende Nervensystem entsprechend ausrichtet. Was bedeutet das?

Wird der Kontext als bedrohlich wahrgenommen und damit das Überleben als gefährdet erlebt, werden durch das autonome Nervensystem im Körper automatisch Verteidigungsmaßnahmen eingeleitet. Über das sympathische Nervensystem werden Atmung und Herzschlag hochgefahren, damit mehr Sauerstoff in die Muskeln gelangt, die auf diese Weise für Aktivität vorbereitet werden. Gleichzeitig werden Verdauungsprozesse runtergefahren, weil die für sie notwendige Energie nun an anderer Stelle gebraucht wird. Unsere Sinnesorgane werden auf Gefahrenwahrnehmung ausgerichtet: Der Blick wird starr und das Hören auf tiefe Gefahren- oder hohe Alarmfrequenzen ausgerichtet. Kehlkopf und Rachen werden für Brüllen und Kreischen, die Muskulatur des Kiefers für einen möglichen Einsatz aktiviert. Damit sind wir für die Verteidigung, den Angriff oder die Flucht gut vorbereitet. Und dies alles passiert blitzschnell und ohne eine bewusste Entscheidung. Diesen körperlichen Zustand nehmen wir je nach Intensität als Stress, Angst oder Panik wahr.

Die Kehrseite davon ist, dass wir in einem solchen Zustand nicht wirklich gut sozial interagieren können: Unsere Möglichkeit, menschliche Stimmen wahrzunehmen, rückt in den Hintergrund; wir erkennen nicht mehr die freundlichen sozialen Signale im Gesicht des Anderen, unser gesamter Ausdruck wird feindlich und abschreckend und unsere Bewegungen werden einschüchternd, was beim Gegenüber als Reaktion mehr und mehr Unsicherheit und reaktive Verteidigungsmaßnahmen auslöst.

Gelangt unser Nervensystem jedoch über die Neurozeption zu einer Einschätzung von Sicherheit, wird über den ventralen Zweig des Vagusnerv, der Teil des parasympathischen Nervensystems ist, unser Körper automatisch grundsätzlich anders eingestellt: Atmung und Herzschlag werden heruntergefahren, die Muskeln kommen in einen angenehmen Ruhetonus und die Verdauung wird aktiviert. Unser Gesichtsausdruck wird sanft, unsere Stimme angenehm und melodisch. Und das Hören wird über die autonome Regulierung der Muskulatur im Mittelohr auf das Wahrnehmen der für die menschliche Stimme wichtigen Frequenzen ausgerichtet. Dieser physiologische Zustand der körperlichen und geistigen Ruhe und Entspannung ermöglicht uns zum einen Regeneration und Erholung und damit Gesundheit und Wachstum, zum anderen können wir in eine angenehme soziale Interaktion eintreten, die für uns Menschen für unser Wohlbefinden absolut notwendig ist, da wir ein soziales Lebewesen sind.

Neben diesem ruhig entspannten und dem zuvor beschrieben aktivierten Zustand gibt es noch einen dritten physiologischen Zustand, der über den dorsalen Zweig des Vagus herbeigeführt wird: Wenn zu der wahrgenommenen Gefahr noch das Gefühl der Hilflosigkeit oder Überforderung hinzukommt, wenn also Kampf und Flucht keinen Sinn mehr zu machen scheinen, dann bleibt nur die Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen oder sich tot zu stellen. Dazu werden Herz- und Lungentätigkeit sowie der Muskeltonus auf ein Minimum herunter gefahren. Der Mensch erscheint blass, schlaf und gleichzeitig bewegungsunfähig und hofft damit für den Angreifer uninteressant zu werden. Tatsächlich ist es, wenn dann die akute Gefahr vorüber ist, für den Menschen in diesem Zustand nicht leicht, wieder in die Aktion zu kommen - auch weil die Kampf- und Fluchtenergie weiterhin im Körper steckt und nach einer Möglichkeit der Entladung sucht. Unter der Starre lauert die Wut, die Panik und die explosive Aggression.

Soziale Interaktion, Kampf und Flucht sowie Verhaltensstarre und Shutdown sind also drei in uns angelegte Verhaltensweisen, die auf der Grundlage der neurozeptiven Wahrnehmung und Einschätzung des Hier und Jetzt autonom und unabhängig von unserem Bewusstsein auf körperlicher Ebene eingeleitet werden. Und einmal eingeleitet drängen sie nach Realisierung.

Diese drei Verhaltensweisen sind prinzipiell sinnvoll, weil sie unser Überleben sichern: Sie unterstützen einerseits unser Bedürfnis nach Verbundenheit und Gemeinschaft durch die Möglichkeit zur sozialen Interaktion. Andererseits helfen sie, Gefahren und Lebensbedrohungen effektiv entgegenzutreten. Problematisch wird das Ganze jedoch dann, wenn es zu einer falschen neurozeptiven Wahrnehmung und entsprechender Einschätzung kommt, wenn also in einem ungefährlichen Hier und Jetzt Gefahr oder sogar Lebensbedrohung erkannt und entsprechend mit Kampf, Flucht oder Shutdown reagiert wird. Aber wie kann es dazu kommen?

Erlebnisse der erfolgreiche Abwehr von Gefahr und Bedrohung werden in unserem Gedächtnis gespeichert und sind dann leicht abrufbar. Dies ist sinnvoll, da Gefahren und Bedrohungen immer wieder auftauchen werden und es von daher gut ist, wenn bereits erfolgreiche Strategien zur Abwehr bekannt sind. Wenn nun sehr viele solcher Erlebnisse in unserem Gehirn abgespeichert sind, weil das bisherige Leben tatsächlich reich an bedrohlichen Umständen war (z.B. Vernachlässigung, Misshandlungen, Missbrauch, Terror) und diese Erlebnisse nicht zu einem Abschluss mit dem Gefühl des Triumphes über den Angreifer gebracht werden konnten (wir sprechen hier von einem Trauma), dann wird es im Hier und Jetzt immer wieder Auslöser für Erinnerungen an solche Erlebnisse im Dort und Damals geben, die sich mit dem Hier und Jetzt vermischen. Solche Auslöser können in der Umwelt, der Situation, der Erscheinungsweise eines Menschen oder einer Aufgabe, die sich uns stellt, liegen. Das Hier und Jetzt erscheint als gefährlich oder bedrohlich und unser autonomes Nervensystem löst automatisch Defensivhandlungen aus.

In ähnlich Weise können solche Fehleinschätzungen auch durch eigene körperlicher Empfindungen ausgelöst werden, indem sie traumatische Erinnerungen triggern. 

Wir Menschen habe die Möglichkeit mit Achtsamkeit im Hier und Jetzt zu erkennen, was unser autonomes Nervensystem vorhat. Wir können unseren Körper beobachten und besser kennen lernen. Und wenn wir erkennen, was in uns geschieht, können wir entscheiden, ob wir dem folgen wollen oder nicht, ob und in welchem Maße wir kämpfen, flüchten oder erstarren wollen. Wir können lernen, uns selbst zu regulieren. (Selbstregulation: Wieder zur Ruhe kommen) Und wir haben darüber hinaus auch die Möglichkeit zu erkennen, ob Gefahr und Lebensbedrohung tatsächlich im Hier und Jetzt begründet sind oder durch getriggerte Erinnerungen an ein Dort und Damals uns nur so erscheinen. Traumatische Erfahrungen können aufgelöst werden, indem die Niederlage, die ihnen zu Grunde liegt, neu verhandelt und Schritt für Schritt durch ein Gefühl des Triumphes im Hier und Jetzt überschrieben wird.

Sicherheit ist nicht wir etwas, was wir für uns selber brauchen, sondern auch etwas, was wir unseren Kindern schenken können. Je mehr es uns gelingt, unsere Kinder in einem für sie erlebbaren Gefühl der Sicherheit aufwachsen zu lassen, je besser wir sie durch Koregulation in ihrer Selbstregulation unterstützen, desto geborgener und entspannter werden sich unsere Kinder im Hier und Jetzt fühlen können, desto besser werden sie sich entwickeln und lernen und desto gesünder - mental und auch körperlich - werden sie als Erwachsene sein.

20. September 2018

Wie geht man mit schwierigen Menschen um - ohne selbst einer zu sein


Die Frage, wie wir mit schwierigen Menschen umgehen können , wird in der Mai-Ausgabe der buddhistischen Zeitschrift Lion’s Roar thematisiert. Norman Fischer hat dafür einen wunderbaren Beitrag mit dem Titel „Ego Is the Real Culprit“ (Das Ich ist der Übertäter) geschrieben, den ich hier ein wenig gekürzt und ins Deutsche übertragen wiedergeben möchte. Den buddhistischen Rahmen, indem der Aufsatz im Original steht, habe ich weggelassen, ohne dass sich dadurch die Aussage und die Kraft der Aussage im Kern ändert:

Das „Selbst“ ist ein Grundproblem der menschlichen Existenz. Wir sind uns unseres „Selbst“ völlig sicher. Ich bin ich - klar. Wer sollte ich sonst sein? Aber was ist dieses „Selbst“? Wer bin ich?

Wenn ich ich bin und nicht Sie oder ein anderer, dann steckt darin immer auch eine Verwundbarkeit. Denn mein „Ich“ muss sich, um selbst sein zu können, gegen einen Anderen abgrenzen und behaupten, der sich entsprechend gegen mich behauptet. So nimmt das „Selbst“ ganz natürlich eine aggressive oder defensive Haltung an, die wenig Raum für Leichtigkeit lässt.

Dies erklärt, warum Menschen oft schwierig sind. Wenn Sie ständig Sicherheit brauchen und die Welt auf Bedrohungen und Kränkungen untersuchen müssen, werden Sie sich oft in einem Konflikt befinden. In diesem Sinne sind Konflikte nichts Ungewöhnliches, sie sind kein Fehler, sondern die Regel. Und es ist fast immer der Fall, dass Menschen, die sich in einem Konflikt befinden, denken, dass sie um dieses oder jenes kämpfen; tatsächlich kämpfen sie um ihre Identität. Sie kämpfen um das Recht, der zu sein, der sie sind. Sie kämpfen aus der Notwendigkeit heraus, dieses Recht gegen die Ansprüche eines anderen zu rechtfertigen.

Sogenannte schwierige Leute leiden fast immer an Verletzungen, an irgendwelchen Wunden, die ihnen sagen, dass es nicht in Ordnung ist, zu sein, wie sie sind und der sie sind. Und doch sind sie so, wie sie sind. Sie haben keine Mittel und Wege, mit ihrem eigenen Leid zurechtzukommen und es zu bewältigen, auch weil sich das Leid für sie zu überwältigend anfühlt, um sich ihm zu nähern. Stattdessen schlagen sie aus, was den Umgang mit ihnen nahezu unmöglich macht. 

Was auch immer Sie in so einem Fall tun, es wird falsch sein. Wenn Sie ihnen entgegenkommen oder nachgeben, nutzen sie es aus. Wenn Sie Widerstand leisten, treibt es nur ihren Angriff an. Es ist auch eine Falle zu denken, dass es irgendwie Ihre Schuld ist, auch wenn der andere Sie beschuldigt. Und es ist genauso eine Falle zu denken, dass die Schuld beim Anderen selbst liegt: Tatsächlich hat der Andere sich nicht wirklich dafür entschieden, so wütend, so verletzend und schwierig zu sein. Die größte Falle von allem ist zu denken, dass Sie etwas tun können, um den Anderen zu ändern.

Es gibt nur eine wirklich gute Möglichkeit, mit schwierigen Menschen umzugehen; und die besteht darin, sie zu verstehen und anzuerkennen, warum sie so sind, wie sie sind. Und wenn Ihnen das gelingt, dann können Sie sie trotzdem lieben. Und dann werden sie weniger schwierig sein oder zumindest für Sie weniger schwierig erscheinen.

Dies zu erreichen ist nicht so unmöglich, wie es scheint!

Auch Sie selbst sind eine schwierige Person! Wir alle sind manchmal defensiv oder aggressiv, wenn wir uns bedroht fühlen. Das Gefühl, das wir in diesen Zeiten haben, ist unangenehm und bringt nicht das Beste aus uns heraus. Wir haben also genug Anlass, uns zunächst einmal um unsere eigene „schwierige Person“ zu kümmern. Und wenn wir uns zum Beispiel mit Hilfe von Meditationspraxis selbst genau erforschen, werden wir auch andere verstehen lernen.

Wenn wir demütig anerkennen, warum wir so sind, wie wir sind, werden wir verstehen, warum die schwierige Person so ist, wie sie ist. Wie wir sind sie ihrer Konditionierung unterworfen. Wenn sie ein schwieriges Verhalten zeigen, sind sie keine glücklichen Menschen. Das zu wissen hilft uns, ihnen wenigstens ein bisschen zu vergeben. 

Dann können wir die großartige Lehre Shantidevas (ein Königssohn aus Südindien, der in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts lebte und Mönch wurde) schätzen, dass schwierige Menschen wertvolle Schätze sind, seltene Individuen, die uns zwingen, die Weisheit und das Mitgefühl zu entwickeln, die wir brauchen, um Frieden und Stabilität in dieser unruhigen Welt zu finden.


Quelle:
Norman Fischer, Ego Is the Real Culprit, Lion’s Roar May 2018

18. September 2018

Selbstregulation: Wieder zur Ruhe kommen


Unser Leben, unsere Lebensenergie schwingt ständig zwischen Entspannung und Anspannung, Aufregung und Ruhe. Dafür verantwortlich sind das sympathische, aktivierende und das parasympathische, entspannende Nervensystem. Egal ob wir mit uns selber beschäftigt oder in Kontakt mit anderen Menschen oder unserer Umwelt sind - wir reagieren auf das, was passiert, entweder entspannt und ruhig oder aufgeregt, angespannt, ängstlich und wütend. Solange dieses ganz natürliche Hin und Her tatsächlich ein Schwingen ist, ist alles in bester Ordnung. Rhythmus ist unser Leben.

Viele Menschen leben jedoch in einem Zustand übermäßiger oder auch dauerhafter Anspannung, Unruhe und Angst.

Sie stehen vielfältigen Anforderungen gegenüber und erleben einen enormen Leistungsdruck, der sie frustriert, dauerhaft stresst und ihnen Angst macht. Sie sehen sich konfrontiert mit Vorwürfen und Anschuldigungen. Sie spüren, wie ihre Grenzen nicht respektiert, sondern verletzt werden. Sie sind in einem Zustand hoher Erregung, erleben Ärger und Wut, müssen sich verteidigen, greifen an, hauen um sich und verletzen ihre Mitmenschen mit Worten oder auch physischer Gewalt. Manchmal wollen sie vielleicht auch nur noch davonlaufen. Und wenn das alles nicht funktioniert, ziehen sie sich in ihr Innerstes zurück und hoffen reglos und erstarrt unter großer Anspannung, dass alles doch einfach nur an ihnen vorüber geht.

Auch in der Partnerschaft oder im Familienleben erleben sie keine Ruhe und Entspannung. Es fühlt sich an, als ob alle andauernd an ihnen herumziehen und -zerren. Ständig gibt es Auseinandersetzungen um jede Kleinigkeit. Die Kinder sind überdreht und fordernd. Der Alltag ist von Enttäuschungen, Anschuldigungen, Vorwürfen und Verletzungen durchzogen. Sie sehe sich Ansprüchen gegenüber, die über ihre Grenzen gehen. Ihre Interessen und Bedürfnisse kommen zu kurz. Sorgen um Gesundheit, Schule und Einkommen quälen. Und immer wieder tauchen Gefühle von Wut, Kummer, Hilflosigkeit, Traurigkeit und Erschöpfung auf.

Viele Menschen erleben viel zu oft Über- oder auch Untererregung und stecken in diesen Zuständen über viel zu lange Zeiträume fest. Am Ende sind dann die Zeiten der Entspannung und der Ruhe, die für Gesundheit, Entwicklung und Wohlbefinden unbedingt notwendig sind, nicht mehr ausreichend gegeben. Dies alles macht Menschen körperlich und seelisch krank.

Damit dies nicht passiert, ist es notwendig, dass wir lernen, uns selbst immer wieder aus hoher oder auch völlig fehlender Erregung in einen Zustand der Entspannung zu regulieren. Mit Selbstregulation können wir in dem Bereich der angenehmen Dynamik bleiben, in dem Bereich, wo ich entscheiden kann und nicht von meinen Emotionen, Gedanken und Befürchtungen getrieben werde, wo Klarheit und Ruhe sich einstellen können, wo Wachstum und Gesundheit stattfinden können.

Selbstregulation ist das Vermögen, mit unserer Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt anzukommen, Emotionen und Gefühle zu beruhigen und uns nicht von ihnen oder Vorurteilen, Sorgen und Ängsten irgendwohin ziehen zu lassen. Selbstregulation ist das Vermögen, den Moment aktiv zu erleben und uns lebendig zu fühlen. Selbstregulation ermöglicht das Erleben von Sicherheit, Ruhe und Klarheit in unserem Körper und Geist.

Wenn wir in dieser Weise ruhig und entspannt sind, fühlen wir uns in unserem Körper zuhause und wir können besser erkennen, was wirklich ist und wahr. Und dies wirkt sich positiv auf unser Sein und Handeln aus.

Doch wie können wir diesen Zustand innerer Ruhe und Klarheit herbeiführen, wenn wir aufgeregt und vielleicht sogar kopflos sind? Wie können wir das für Entspannung zuständige parasympathische Nervensystem in uns aktivieren, wenn das sympathische Nervensystem gerade vollständig die Kontrolle übernommen hat?

Tatsächlich gibt es einen sehr effektiven Zugangsweg zu mehr Ruhe und Entspannung. Und der führt über die Atmung und den körperlichen Rhythmus sowie das Erleben von Sicherheit in mir und in der Begegnung mit Menschen und der Welt.

Der erste und wichtigste Schritt auf diesem Weg ist, die eigene Aufregung, Wut oder Erregung zu bemerken: „Ich bin total aufgeregt und nicht bei mir.“ Dies ist der Moment, in dem ich einen Fuß in die Tür bekomme, der Moment, wo ich den Automatismus meines autonomen Nervensystems, die Defensivsysteme „Kampf“, „Flucht“ oder „Verhaltensstarre“ hochzufahren, und meine Gewohnheitsenergien stoppen kann. Mit diesem so wichtigen Moment habe ich mir die Möglichkeit geschaffen zu entscheiden, etwas zu tun. Ich kann meine Emotionen, mein Erleben und Denken in die Hand nehmen, anstatt mich weiterhin von ihnen und den autonomen Reaktionen treiben zu lassen.

In unserem Nervensystem ist der komplexe Vagusnerv als Teil des parasympathischen Nervensystems für unsere körperliche Ruhe und Entspannung zuständig. Er verbindet unser Gehirn auf direktem Weg mit einem Großteil unserer inneren Organe und der Gesichtsmuskulatur. Dieser Nerv sorgt einerseits dafür, dass unser Herz ruhig schlägt, wir entspannt atmen und unser Verdauungssystem effektiv arbeitet, dass wir also ein angenehmes, unaufgeregtes Körpergefühl haben. Und andererseits sorgt dieser Nerv dafür, dass wir uns mit angenehmer Stimme und freundlicher Augen-Mimik unserem Gegenüber zuwenden können und unser Mittelohr sich auf die Wahrnehmung menschlicher Stimmen einstellt, wodurch wir wir in einen guten Kontakt mit anderen Menschen kommen können. 

Diese verschiedenen Facetten des Vagusnervs sind miteinander verbunden. Und das bedeutet: Wenn es mir gelingt, eine Facette zu aktivieren, führt das zu einer Mitaktivierung der anderen Facetten, die sich dann gegenseitig verstärken. Darüberhinaus entsteht ein positiver sozialer Rückkopplungseffekt: Indem ich ruhig bin und sozial interagiere, erlebt mein Gegenüber Sicherheit in meiner Gegenwart, kommt zur Ruhe und kann sozial interagieren, was mein Erleben von Sicherheit und meine körperliche und geistige Ruhe stabilisiert.

Es lassen sich also drei, miteinander verbundene Ebenen unterscheiden, die ich als Zugang zur Selbstregulation nutzen kann:

Die körperlicher Ebene: den Vagusnerv direkt beeinflussen

Das einzige innere Organ, dass wir direkt und willentlich beeinflussen können, ist unser Atmungsorgan, die Lunge. Wir können das Ein- und Ausatmen verlangsamen, rhythmisieren und von der Brust in den Bauchraum verschieben. Indem wir langsam und rhythmisch entspannt mehr in den Bauch als in die Brust atmen, dabei das Einatmen einfach nur geschehen lassen und das Ausatmen ein wenig verlängern geben wir Signale der Sicherheit in unseren Körper, die dazu führen, dass der Herzschlag sich autonom verlangsamt und die Verdauung angeregt wird, alles Dinge, die unsere körperliches Wohlbefinden steigern.
Wir können dies noch verstärken, indem wir eine Melodie summen, was angenehme Vibrationen in Mund-Hals-Bereich bis hinunter in den Bauchbereich erzeugt und ein Gefühl der Lebendigkeit schafft. Wir können uns dazu sanft wiegen und singen. All diese rhythmischen Aktivitäten wirken beruhigend auf unseren Körper. Eine weitere Möglichkeit ist das langsame und achtsame Gehen, die Geh-Meditation, bei dem wir jeden Schritt beobachten und mit unserem Atmen synchronisieren.

Die emotional-soziale Ebene: das Gefühl von Verbundenheit und Ehrfurcht entwickeln

Eine beruhigende Kraft steckt auch im Gefühl der positiven Verbundenheit mit sich selbst, den Menschen und der Natur. So kann man sich selber in schwierigen Situationen positiven Zuspruch geben: „Das schaffst du!“ „Du bist einzigartig!“ Mitgefühl für sich selbst ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass man auch Empathie und Mitgefühl für den anderen, den Mitmenschen empfinden kann.
Eine Praxis, dies zu kultivieren, ist die sogenannte „Liebenden-Güte-Meditation“, in der immer wieder eine freundlich-wohlwollende Haltung gegenüber allen fühlenden Wesen eingenommen wird.
Hilfreich ist es auch, dass wir uns Zeit nehmen, innezuhalten und die Gedanken für Dinge zu öffnen, die wir nicht vollständig verstehen. Die sich dabei einstellende Ehrfurcht ist für unser Wohlbefinden gut, weil sie uns uns selbst in größeren Zusammenhängen erleben lässt. Wir können etwas Wertvolles finden, das uns bewegt und aktiviert.

Die geistiger Ebene: einen klaren Geist entwickeln

Auch auf der geistigen Ebene gibt es Möglichkeiten der Selbstregulation.
Die Achtsamkeitsmeditation gehört ganz wesentlich dazu. In dieser Form der Meditation geht es darum, nur zu beobachten, was unser Geist so alles treibt, ohne sich daran festzuklammern oder sich damit zu identifizieren. Sie unterstützt uns darin, zu mehr Selbstdistanzierung zu kommen und uns von der Vergangenheit und der Zukunft und auch von Emotionen zu entkoppeln und mehr im Hier und Jetzt anzukommen.
Eine weitere Möglichkeit zur Selbstregulation auf geistiger Ebene besteht darin sich mit unangenehmen, wütend- oder angstmachenden Erlebnisse, die noch nicht als abgeschlossen in die Lebensgeschichte eingebunden sind und uns deshalb immer wieder aktivieren, zu beschäftigen, einen Sinn in ihnen zu entdecken, indem ich sie in eine kohärente Erzählung mit einem Anfang, Höhepunkt und einem Ende verwandle. Dies kann auch ein therapeutischer Prozess sein, wie er zum Beispiel im Rahmen von Somatic Experiencing stattfindet.

Es gibt also tatsächlich vielfältige Möglichkeiten etwas für seine Selbstregulation und für sein eigenes Wohlbefinden zu tun. Egal welche Ebene ich dabei bevorzuge, natürlich braucht Erfolg Übung! Und am besten übe ich das regelmäßig und indem ich mir dafür bewusst Zeit nehme. Nichts verändert sich ohne einen ersten Schritt. Manchmal ist es eine gute Idee, wenn ich dies nicht alleine übe, sondern in einer Gemeinschaft oder in Kursen für Meditation, Yoga und Tiefenentspannung gemeinsam mit einem erfahrenen Lehrer. Dabei werde ich merken, dass ich immer alle drei Ebenen berühre und dies die Wirksamkeit meiner Selbstregulation verstärkt.

Mit der Zeit wird mir diese Praxis dann zu einer neuen Gewohnheitsenergie. Und es wird mir immer leichter fallen, in Momenten, in denen ich mich in der Aufregung zu verlieren drohe, meinen Körper zu beruhigen, ein Gefühl zu Verbundenheit zu erleben und meinen Geist zu klären.

9. Juli 2018

Tun Sie nicht so, als ob Sie das nicht ärgert!

Es kommt immer wieder vor, dass wir die Art, wie Menschen sich uns gegenüber verhalten oder mit uns reden, unangemessen, unangenehm oder auch angreifend und verletzend finden. 

Wir werden in solchen Momenten dann schnell ärgerlich und wütend. Wir möchten uns verteidigen, dem anderen unsere Meinung sagen oder mit Worten oder sogar Fäusten zurückschlagen.

Es kann jedoch sein, dass wir dies dann nicht tun, weil wir
  • es nicht für richtig halten („Das macht man nicht“), 
  • uns nicht trauen („Sie ist doch meine Chefin“) oder
  • es nicht dürfen („Es gehört zu meinem Job, ruhig und freundlich zu bleiben“).
 
Menschen gehen dann über ihre eigenen Gefühle hinweg und bemühen sich, freundlich und zugewandt zu bleiben, auch wenn sie eigentlich Aggression in sich spüren. Sie tun so, als ob sie sich nicht ärgeren, als ob sie nicht wütend sind und unterdrücken ihre Gefühle und die dazugehörenden Impulse.

Dieses Übergehen und Maskieren der tatsächlichen Gefühle ist für diese Menschen jedoch sehr anstrengend und kostest sie viel Kraft. Forscher sehen darin auch einen wichtigen Faktor für Burnout in der Arbeitswelt.

Damit soll auf keinen Fall gesagt werden, dass wir unseren Aggressionen und Impulsen freien Laufen lassen sollten. Denn das Ausagieren von Emotionen löst oftmals das zugrundeliegende Problem gar nicht. Ausagieren kann vielmehr dazu führen, dass Situationen eskalieren und soziale Verbundenheit verloren geht. Außerdem hat Forschung gezeigt, dass das häufige Ausagieren von Wut nur noch häufiger zu wütendem Verhalten führt. 

Eine bessere Idee ist es, uns unserer tatsächlichen Emotion bewusst werden und sie dann in uns zu regulieren.

Es gibt also zwei verschiedene Möglichkeiten, wie wir mit unseren Emotionen in herausfordernden Situationen umgehen können
  1. Wir können einerseits oberflächlich so tun, als ob wir ruhig sind, können uns verstellen, uns „korrekt“ verhalten und dabei unsere tatsächlichen Gefühle des Ärgers, des Kummers oder der Wut unterdrücken. Diese Gefühle wirken aber in uns weiter und reiben uns auf Dauer innerlich auf.

  2. Wir können uns andererseits bewusst bemühen, unsere tatsächlichen und bisweilen schwierigen Gefühle zu erforschen, um sie schrittweise in uns aufzulösen oder sie zumindest in ein neutrales Gefühl zu transformieren. Auf diese Weise bleiben wir uns selbst gegenüber ehrlich und können anderen Menschen authentisch begegnen.
Je nachdem, welche Möglichkeit wir wählen, verändert das die emotionale Belastung, die Begegnungen mit schwierigen Menschen für uns haben.

Wenn wir uns für den zweiten Weg entscheiden, entscheiden wir uns definitiv für den mental gesünderen Weg - und gleichzeitig auch für den schwierigeren! Dieser Weg ist deshalb schwierig, weil wir nicht gewohnt sind, ihn zu gehen, weil wir keine oder wenig Erfahrung damit haben. Es geht nämlich darum, mitfühlend zunächst auf den eigenen Schmerz zu reagieren, ihn zu identifizieren und zu verhindern, das er die Kontrolle über uns gewinnt und unnötig wächst. Wenn wir dann selbst in der Balance sind, können wir uns vielleicht sogar dem Schmerz des Mitmenschen zuwenden, ihn fühlen und so handeln, dass es auch ihm hilft. Auf diese Weise ist dieser Weg nicht nur für mir gut, sondern auf für den anderen.

Wie kann das funktionieren?

Der erste Schritt auf diesem Weg besteht darin, das eigene Gefühl und den daraus resultierenden Impuls zu bemerken und ernst zu nehmen: „Ich bin tatsächlich, durch das, wie sich der Andere verhält, verärgert. Ich merke meine Wut im Körper.“ 
Je früher ich ein solches Gefühl in mir bemerke, um so größer ist meine Chance, mich in meiner Reaktion zu bremsen, mich durch bewusst ruhiges Atmen ein wenig zu regulieren und ein wenig nachzudenken: „Was ist hier gerade passiert? Wie sehr bin ich in Gefahr? Was will ich nun tun?“ 
Dies hilft mir, mich auf die Situation, mit überlegtem Handeln zu beziehen - anstatt nur einfach darauf zu reagieren. Es hilft mir dabei, meine Emotion zu zähmen, sie an die Hand zu nehmen und selbst zu entscheiden, wo es langgeht, anstatt mich von ihr über den Tisch ziehen zu lassen.

Im zweiten Schritt kann ich mich dafür entscheiden, die für den Moment gezähmte Emotion zu einem späteren Zeitpunkt zu erforschen, um größere Klarheit für mich zu erlangen. Das Verschieben auf einen späteren Zeitpunkt ist oft notwendig, da das Erforschen eigener Emotionen gar nicht so einfach ist und Zeit braucht, die ich im Moment vielleicht gar nicht habe. Das sollte aber nicht dazu führen, dass ich am Ende das Erforschen vergesse.

Im dritten Schritt kann ich mich dann dem Anderen mit seinem Anliegen ruhiger als zuvor zuwenden: „Okay, worum geht es dir?“ Wenn der Andere sich dadurch gesehen fühlt, wirkt das mit großer Wahrscheinlichkeit beruhigend auf ihn. Und das ist gut. Denn in der Ruhe - meiner eigenen und der des anderen - entsteht Klarheit und Klarheit ist eine wesentliche Voraussetzung für eine Lösung. Dabei ist eine Lösung nur dann wirklich eine Lösung der Schwierigkeit, wenn beide, also ich und der andere, darin auch wirklich eine Lösung sehen.

Zu einem späteren Zeitpunkt kann ich mich dann meinen eigenen Gefühlen forschend und eventuell mit Unterstützung eines liebevollen Mitmenschen zuwenden. Dabei erkenne ich vielleicht, dass meine Aggression und meine Wut aus einem alten Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung immer wieder neu entstehen, ein Gefühl, das eigentlich gar nichts mit der aktuellen Situation zu tun hat.
Vielleicht entdecke ich unter meiner Wut eine Traurigkeit, die daraus resultiert, dass ich mein Potential bisher im Leben nicht entfalten konnte. 
Und mit großer Wahrscheinlichkeit erlebe ich in diesem Prozess der Auseinandersetzung, wie mein eigenes Ernstnehmen meiner Emotionen und mein eigenes Mitgefühl für mich sich auf meine schwierigen Gefühle beruhigend auswirken.

Dies ist zu Beginn des Weges gar nicht einfach. Und wie bei allem macht auch hier die Übung den Meister. Fangen Sie an, diesen Weg zu praktizieren, wenn kleine Gefühlswirbel mit Menschen, die Sie mögen, auftreten. Vielleicht holen Sie sich auch Unterstützung in Achtsamkeits-, Yoga-  oder Meditationsgruppen. Es lohnt sich für Ihre eigene mentale Gesundheit, egal ob die Schwierigkeiten in der Familie oder der Arbeitswelt bestehen.


Links:
How faking your feelings at work can be damaging

3 Tips for Surviving a Toxic Workplace

30. Juni 2018

Ehrfurcht oder Das Erleben des Unermesslichen

Wenn wir mit offenen Sinnen und offenem Geist durch die Welt und das Leben gehen, dann können wir über so manche Dinge, denen wir begegnen, ins Staunen kommen. Und manchmal werden wir auch ganz still vor Ehrfurcht.

Ehrfurcht ist das Gefühl, sich in der Gegenwart von etwas Größem als man selbst, etwas Unermesslichem zu befinden. 
Dies können Dinge und Ereignisse in der Natur, der Kunst und Kultur sein, aber auch besondere Menschen. Auf jeden Fall übersteigen sie in diesem Moment unser individuelles Verstehen der Welt.

Dacher Keltner, Professor für Psychologie an der University of California, hat in wissenschaftlichen Studien die Effekte und die Bedeutung von Ehrfurcht für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft untersucht.

Keltner zeigt mehrere positive Auswirkungen der Ehrfurcht auf:
  • In der Gegenwart von großen Dingen zu sein, ruft ein bescheideneres, weniger narzisstisches Selbst hervor, das eine größere Freundlichkeit gegenüber anderen ermöglicht. Ehrfurcht bettet das individuelle Ich in eine soziale Identität ein. Konkret hat er festgestellt, dass Ehrfurcht Menschen dazu bringt, zusammenzuarbeiten, Ressourcen zu teilen und anderen freizügig zu geben.
  • Augenblicke der Ehrfurcht stimulieren das körperliche Wohlbefinden, unter anderem indem dieses Gefühl sich positiv auf den Zytokinspiegel (ein körpereigenes Protein) auswirkt, der Einfluss auf Entzündungen im Körper und unter anderem auch auf das Entstehen von Depressionen hat, wie deutsche Studien gezeigt haben. Die Dinge, die wir tun, um Ehrfurcht zu erleben - ein Spaziergang in der Natur, sich in Musik zu verlieren, Kunst zu betrachten - haben also einen direkten Einfluss auf Gesundheit und Lebenserwartung, sagt Keltner.
  • Und das Erleben von Ehrfurcht weckt auch die Neugier und den Forscherdrang im Menschen, der dann die Bereitschaft hat, sich länger mit schwierigen oder herausfordernden Aufgaben zu beschäftigen.
Und deshalb schlägt Keltner vor, dass wir uns Zeit nehmen, innezuhalten und die Gedanken für Dinge zu öffnen, die man nicht vollständig versteht. Denn Ehrfurcht ist nicht nur für das Wohlbefinden des einzelnen Menschen gut, sondern auch für die soziale Gemeinschaft, da Gefühle der Ehrfurcht das soziale Miteinander durch prosoziales und freundliches Handeln stärkt.

In Ihrem Buch "Kindern mehr zutrauen", weißt Michaeleen Doucleff daher auch darauf hin, wie wichtig es ist, die Entwicklung von Ehrfurcht bei Kindern zu fördern.  Kinder, denen dieses Gefühl zur Verfügung steht, können sich leichter in emotional schwierigen Situationen regulieren.

Staunen Sie also mit Ihren Kindern hin und wieder über die Unermesslichkeiten, denen Sie überall begegnen. Werden Sie gemeinsam sprachlos.


Links und Literatur:


Yasmin Anwar, Can Awe Boost Health? 

ZeitOnline, Wenn die Welt auf einmal still wird 

Michaeleen Doucleff, Kindern mehr zutrauen. Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen


27. Juni 2018

Sei doch mal ein bisschen empathisch!


Empathie ist etwas, zu dem in sozialen Prozessen gerne aufgefordert wird, häufig verbunden mit dem Vorwurf, dass es daran fehlt. Aber was bedeutet es denn empathisch zu sein? Mit wem kann ich empathisch sein? Und wie kann ich Empathie entwickeln?

Empathie für den Anderen

Empathisch mit dem Anderen zu sein, bedeutet, dem Mitmenschen achtsam und mitfühlend zu begegnen, insbesondere dann, wenn es ihm nicht gut geht. Man spricht hier von affektiver Empathie
Ich erkenne, wie es dem anderen Menschen geht. 
Ich gebe dem Raum und erkenne an, dass es dem Anderen tatsächlich so geht. 
Ich fühle mit, wenn er leidet, Angst hat oder traurig ist, wenn er gestresst oder überfordert ist. Ich zeige Mitleid. Dabei muss ich mir nicht zwangsläufig das Gefühl des Anderen zu eigen zu machen. 
Ich kann auch empathisch darauf reagieren, wenn der Andere Glück hat, erfolgreich ist, sich freut oder wenn er sich gut fühlt. Das nennt man dann Mitfreude. In der Regel erscheint es weniger notwendig, Mitfreude zu zeigen; scheinbar wird sie auch weniger eingefordert. Mitfreude zu zeigen ist jedoch gar nicht so leicht, wie es klingt, weil schnell auch Neid entstehen kann.

Mit Empathie ist darüber hinaus auch die Fähigkeit und Bereitschaft gemeint, die Perspektive des anderen auf Dinge, Fragen und das Leben insgesamt einzunehmen. Hier spricht man von kognitiver Empathie:
Ich bemühe mich, das Wahrnehmen und Denken und die daraus resultierenden Handlungen meines Gegenübers „wie er selbst“ zu verstehen. 
Ich will verstehen, wie der andere tickt, was seine Werte sind, aus welcher Perspektive er auf das Leben schaut, wonach er strebt und was für ihn Glück und Erfüllung bedeutet.
  • "Ich fange an zu verstehen, dass Familie für dich sehr wichtig ist, wichtiger als unsere Freundschaft, und du deshalb im Moment weniger Zeit für mich hast als früher."
  • "Ich erkenne, dass Reichtum und Besitz für dich Glück bedeuten und dass du deshalb so viel über Geld und Karriere redest.“
Emphatische Menschen, können den Anderen, seine Handlungsmotive und den Sinn dahinter besser verstehen und auf dieser Grundlage angemessener mit ihm in Beziehung treten. Meine Empathie ist also nicht nur gut für den Mitmenschen, indem es ihn in seinem momentanen Sosein anerkennt, sondern meine Empathie ist auch gut für mich, weil es mir ermöglicht, Begegnung mit dem Mitmenschen besser zu verstehen und angemessener zu handeln.

Empathie für mich

Häufig wird Empathie einseitig verstanden als Mitgefühl für den Mitmenschen, als das Bemühen, den Anderen zu verstehen. Doch Empathie ist auch eine Haltung, die ich mir selber gegenüber einnehmen sollte.

Ich bin empathisch für meine eigenen Gefühle und Emotionen; ich begegne meinem Schmerz, meiner Wut und meinem Kummer, aber auch meiner Freude und Ausgelassenheit achtsam und mit Mitgefühl. Ich gebe mir selber Anerkennung.
  • Ich merke, wie Traurigkeit in mir aufsteigst; ich spüre das und nehme es an. Ich versuche die Traurigkeit mit großer Ruhe zu betrachten. Ich laufe nicht weg vor ihr und ich will sie nicht verjagen.
  • Ich bemerke meine Freude über das, was passiert, und genieße es, wie sie meinen ganzen Körper vibrieren lässt.
Empathie mit mir zu haben, bedeutet aber auch, Klarheit zu gewinnen über meine eigenen Interessen, Werte, Haltungen und Sichtweisen auf die Welt, die alle miteinander mein aktuelles Denken, Sprechen und Handeln stark beeinflussen. Auf diese Weise komme ich mit meinem Selbst besser in Kontakt und mein Handeln kann mir verständlicher werden. 
  • Ich vermeide möglichst jeden Streit, weil ich aus meiner Herkunftsfamilie keine Streiterfahrung mitbringe. Ich gebe lieber klein bei, ordne mich unter und verbiege mich.
  • Ich brauche ganz viel Anerkennung, um glücklich sein zu können. Deshalb übernehme ich bei der Arbeit auch die ungeliebten Arbeiten und gehe damit über mein Limit.
Empathie für mich selbst und für andere sind wie zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig erfordern und ermöglichen: Wenn ich Empathie, also Mitgefühl und Verstehen für mich selber habe, kann sich die Ruhe und Klarheit in mir entwickeln, aus der heraus ich mich empathisch dem anderen Menschen zuwenden kann. Wenn ich in empathischem Kontakt mit mir selber bin, kann ich in mitfühlenden und verstehenden Kontakt mit anderen Menschen treten. Wenn ich mich liebe, kann ich auch andere Menschen bedingungslos lieben. Und wenn ich den Kontakt zu mir verliere, kann ich nicht mehr wirklich empathisch sein, weil meine Basis nicht stabil ist und mein Balance verloren geht.

Wie kann ich mein empathisches Potential entwickeln?

Am besten beginne ich, mein empathisches Potential in Bezug auf mich selbst zu entwicklen:
  • Ich übe, meinen Körper mit all seinen Gliedern, dem Herzen und den Organen zu spüren und als ein Ganzes zu erfahren. Ich bin wach mit allen Sinnen, offen und unvoreingenommen für alle körperlichen Sinneseindrücke.
  • Ich übe, meine Emotionen und Gefühle wahrzunehmen und achtsam anzunehmen. Ich verurteile nichts und lasse zu, was da ist, ohne es zu forcieren.
  • Ich übe, meinen Geist mit all seinen Gedanken, Ideen, Erinnerungen und Plänen zu betrachten und zur Ruhe kommen zu lassen. 
  • Ich übe, meinen Körper, meine Emotionen und meinen Geist miteinander zu verbinden.
Meditation und meditative Übungen können dafür einen Rahmen geben. Manchmal braucht es dafür die Unterstützung einer Gruppe oder eines Lehrers. In der achtsamen Meditation kann ich mich mit meinen vielfältigen Facetten besser kennen lernen und mich mir empathisch zuwenden: Das bin ich und das ist für den Moment gut so.

Eltern können dies gemeinsam mit ihren Kindern üben, indem sie immer wieder gemeinsam die Aufmerksam auf den Köper, die Emotionen und den Geist lenken. Mit Neugier und Achtsamkeit, können sie gemeinsam dem, was ist, nachspüren und das, was ist, zulassen, ohne es zu bewerten.

In Bezug auf andere Menschen kann ich mein empathisches Potential entwickeln, indem ich auf der sicheren Basis meines empathisch getragenen Selbstgefühls mit offenen Sinnen und klarem Geist Menschen begegne. Ich bin neugierig auf den Anderen, den Fremden. Ich höre ihnen achtsam zu, ohne zu meinen, alles schon zu wissen. Ich stelle meine Vorurteile in Frage und begebe mich auf eine Entdeckungstour: Wer ist der andere wirklich? Was sind seine Werte und Interessen? Was beschäftigt ihn? Welche Gefühle schwingen in ihm? Welche Impulse drängen in ihm? Was erwartet er von mir und vom Leben?

Die Entwicklung von Empathie kann nur Schritt für Schritt gelingen. Empathie ist ein Weg, den ich auf der Suche nach mir und dem Anderen beschreiten kann. Ich kann mich für diesen Weg entscheiden und er beginnt mit einem ersten Schritt.

Und Empathie ist nicht die Lösung eines Konflikts, sondern nur ein wichtiger, notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer Lösung. Die Lösung beginnt mir dem tiefen gegenseitigen empathisch Verstehen des Anderen und erwächst aus der gemeinsamen Suche nach Gemeinschaft im Angesicht  widerstrebender Interessen, Werte und Haltungen.

„Wenn jeder alles von dem Anderen wüsste, es würde jeder gern und leicht verzeihen, es gäbe keinen Stolz mehr, keinen Hochmut.“ 
Hafis 
(persischer Dichter des 14. Jahrhunderts)

14. Juni 2018

Gehorsame Kinder


Wollen Sie wirklich ein gehorsames Kind?

Irgendwie hat ja die Vorstellung vom gehorsamen Kind etwas Verlockendes; das Kind hört, was ich sage, und befolgt dies:
  • „Putz dir jetzt die Zähne und geh ins Bett.“ Und das Kind putzt sich die Zähne und geht ins Bett.
  • „Bringe bitte den Müll raus zur Mülltonne.“ Und das Kind bringt den Müll raus.
  • „Mache deine Hausaufgaben, bevor du spielen gehst.“ Und das Kind macht zuerst seine Hausaufgaben.
  • „Sei bitte zum Abendessen pünktlich wieder zurück aus dem Freibad.“ Und das Kind setzt sich pünktlich an den gedeckten Familientisch.
  • „Zank dich nicht immer mit deiner kleinen Schwester.“ Und die Kinder spielen freundlich miteinander.
  • „Pass in der Schule besser auf.“ Und das Kind passt besser auf.
Das klingt irgendwie gut, oder? Ein gehorsames Kind scheint das Familienleben doch sehr viel einfacher zu machen. Ich sage etwas und schon passiert das auch. Wunderbar! Nur - vielleicht leider, vielleicht Gott sei Dank - ist das nicht immer so. Und dennoch gibt es sie, die gehorsamen Kinder.

Wann und warum ist ein Kind gehorsam? 
Auf diese interessante Frage gibt es sicherlich eine Vielzahl von Antworten. Vereinfachend will ich hier drei Antworten geben und ein Versuch der Auflösung:

1. Antwort: Das Kind ist gehorsam, weil es weiß, dass die Eltern es sonst strafen.
Dann ist das Kind aber nicht wirklich gehorsam, sondern es ist ängstlich; es befolgt, was ich sage, weil es weiß, dass es ansonsten bestraft wird. Und es befolgt die Anweisung, die manchmal als Frage, machmal als Bitte verklausuliert ist, solange das Gefühl der Angst besteht. Aber was wird eines Tages passieren, wenn das Kind nicht mehr das Gefühl hat, Angst haben zu müssen.
  • „Bring bitte den Müll raus zur Mülltonne.“ - „Und wenn nicht? Willst du mich dann wieder sofort ins Bett schicken? Vergiss es!“
Gehorsam funktioniert nicht mehr, weil das dahinterstehende Druck- und Strafsystem nicht mehr funktioniert. Wie lange kann ich meinen Druck aufrecht erhalten, damit mein Kind weiter gehorsam bleibt? Wie viel Kraft will ich da hineinstecken?

2. Antwort: Das Kind ist gehorsam, nur so lange die Eltern zugegen sind.
Dann ist das Kind aber nicht gehorsam, sondern unaufrichtig. Sobald die Eltern nicht mehr anwesend sind, macht das Kind nicht mehr das, dem es vordergründig zugestimmt hat, sondern, was es will.
  • „Putz dir jetzt bitte die Zähne und geh ins Bett.“ - „Ja, mach ich.“
    Aber im Badezimmer läuft nur das Wasser, während das Kind im Comic liest; es legt sich anschließend ins Bett, doch sobald die Eltern ins Kino gegangen sind, schaltet es den Computer ein.
Die Aufforderung der Eltern zu Gehorsam lässt das Kind unehrlich werden. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind stimmt dann nicht mehr. Was habe ich dann von dem scheinbaren Gehorsam?

3. Antwort: Das Kind ist gehorsam, weil es aus Erfahrung weiß, dass die Anweisungen oder Aufforderungen der Eltern in der Regel sinnvoll sind.
Dann ist das Kind aber gar nicht nur einfach gehorsam, sondern es ist bereit, aktiv in den Willen der Eltern einzuwilligen, weil die Eltern sich für das Kind als Orientierung und Sicherheit gebende Instanzen bewährt haben. Sie sind in den Augen des Kindes ein sicherer Hafen. Kinder erleben sich mit solchen Eltern (im Sinne der von John Bowlby begründeten Bindungstheorie) als sicher gebunden. Solche Eltern werden ihrer Verantwortung für das Kind gerecht, besitzen daher Autorität und brauchen sich nicht autoritär zu gebärden.

Was aber, wenn das älter werdende Kind selbstbewusster und entscheidungsfreudiger wird, wenn es seine Vorstellungen und Möglichkeiten ausprobieren möchte? Was, wenn es etwas anderes als seine Eltern angemessen und sinnvoll findet?
  • "Mach deine Hausaufgaben, bevor du im Garten spielst." - "Meine Hausaufgaben mache ich später. Ich brauche erst etwas Bewegung. Ich habe nämlich den ganzen Vormittag in der Schule nur gesessen.“
Jetzt wäre Gehorsam aus der Sicht des Kindes nicht richtig. Gehorsam wäre unvernünftig für das Kind. Will ich in solch einer Situation trotzdem ein gehorsames Kind, ein Kind, das trotzdem aktiv in mein Wollen einwilligt?

Ja, gerne! 

Und gleichzeitig kann ich bereit sein, dem Kinder Verantwortung zu übergeben.

Auflösung:
In der gleichwertigen Gemeinschaft, ein von Jesper Juul formuliertes Konzept für das Miteinander in Familien und partnerschaftlichen Beziehungen (lesen Sie dazu meinen Post Gleichwürdigkeit in der Familie), lässt sich diese Situation gut auflösen. Zwei Punkte sind dabei wichtig:
  1. Ich nehme das Kind mit seinen Bedürfnissen und Werten wahr; ich sehe es, ich höre es und ich nehme es ernst.
    „Das ist also deine Idee?!“ - „Ja!“ - „Okay …“
    Auf diese Weise, erfährt es Anerkennung, die sein Selbstgefühl stärkt und die Basis für persönliche Verantwortung ist. Wer persönliche Verantwortung übernehmen kann, braucht nicht mehr gehorsam zu sein. Persönliche Verantwortung ist das Ergebnis eines Lern- und Erfahrungsprozesses, der nicht frühzeitig genug Schritt für Schritt durch Erwachsene ermöglicht und begleitet werden muss.
  2. Das Kind erfährt Respekt für seine Werte und Ziele, die es äußern und für die es eintreten kann, ohne verhöhnt, diffamiert, entwürdigt oder beschuldigt zu werden. Indem ihm Raum zur Verwirklichung gewährt wird, erlebt es seine eigene Integrität. Aus dieser Zufriedenheit heraus, kann es ein Gefühl dafür entwickeln, wie wichtig es ist, Respekt für die Integrität der Mitmenschen zu entwickeln. Der junge Mensch entwickelt eine Bereitschaft, aus Respekt vor dem anderen in das Wollen anderer aktiv einzuwilligen, obwohl er andere Vorstellungen hat. Er erkennt, dass Gemeinschaft nur möglich ist, wenn unterschiedliche Interessen miteinander in ein Gleichgewicht gebracht werden. Gleichzeitig entwickelt der Jugendliche ein Gespür dafür, wo er seine Einwilligung nicht geben kann, weil seine persönlichen Grenzen ansonsten verletzt werden würden.
Das alles können Kinder, die aus Angst oder nur vorgeblich gehorsam sind, nicht lernen. Diese Kinder lernen, dass Androhungen von Sanktionen und Gewalt ein erfolgreicher Weg sind. Sie entwickeln ein fragiles Selbstgefühl und werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen und Respekt für den anderen zu entwickeln. Als Erwachsene werden sie versuchen, ihren Willen durch Einschüchterung und Androhung von Gewalt durchzusetzen oder sich durchzumogeln, in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden.

Unsere Gesellschaft braucht also keine gehorsamen Kinder, sondern vielmehr Menschen, die wissen, was sie wollen und wofür sie einstehen, und aus Verantwortung für sich und die anderen entscheiden, ob sie einwilligen in das Wollen des anderen. Das ist ein Lernprozess, der in der frühen Kindheit beginnt, sich durch das Jugendalter zieht und erst mit dem Erwachsensein abgeschlossen ist.



9. Juni 2018

Das Beste, was mir einfällt

Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum Menschen in einer bestimmten Situation genau das tun, was sie tun? 
Oder auch warum Sie genau das machen, was Sie machen? Jetzt zum Beispiel?

Die Antwort ist einfach: 
Alle Menschen - also auch Sie! - tun und machen in jedem Moment des Lebens genau das, was sie tun und machen, weil das das Beste ist, was ihnen in der jeweiligen Situation einfällt. 
Würde den Menschen etwas Besseres einfallen, würden sie das tun. 
Was auch immer Sie also gerade tun, es ist das Beste was Ihnen gerade einfällt. Würde Ihnen etwas Besseres einfallen, würden Sie das tun, oder?

Jetzt sagen Sie vielleicht: Bei diesem schönen Wetter fällt mir schon ein, wie viel besser es wäre, an den Badesee zu fahren und mir einen schönen Tag zu machen, anstatt zur Arbeit zu gehen. Trotzdem gehe ich zur Arbeit.

Und warum tun Sie das? 
Weil das tatsächlich die bessere Idee, oder die im Moment beste Idee für Sie ist: Es vermeidet anstrengende Gespräche mit Ihrem Chef, erhält Ihnen den Arbeitsplatz, sichert Ihnen Ihr Einkommen, gibt Ihnen das gute Gefühl, zuverlässig und diszipliniert zu sein. Oder?

Vielleicht haben Sie sich schon einmal im Nachhinein dabei ertappt, dass Sie Ihrem Kind eine unsinnige Strafe aufgebrummt haben. "Das war dann doch nicht das Beste, was mir einfällt?!", werden Sie nun vielleicht fragen. - Doch, es war das Beste, was Ihnen in Ihrem Ärger in dieser Situation und auf die Schnelle einfiel. Sonst hätten Sie das mit Sicherheit nicht gemacht. Und da wird ein wichtiger Punkt deutlich:

Manchmal braucht man ein bisschen Zeit, Ruhe und Abstand zu einer Sache, um tatsächlich eine gute Idee für sein Handeln zu bekommen.

Es gibt aber auch Situationen, da reagiert man und fragt sich anschließend, warum man überhaupt so oder vielleicht sogar schon wieder so reagiert hat, wo man doch eigentlich weiß, dass das keine gute Idee ist, weil es nichts bringt außer weitere Schwierigkeiten. Warum werde ich immer so laut und angreifend, wenn ich mich über eine Sache ärgere? Warum habe ich mich so stur gestellt, statt vernünftigerweise einmal nachzugeben?

Das sind häufig Situationen, in denen wir gar nicht bewusst entscheiden, was wir tun. Hier entscheidet vielmehr unser autonomes Nervensystem auf der Grundlage, wie es die momentane Situation erlebt und  einschätzt, und der gespeicherten Lebenserfahrungen. 
Ich werde laut, weil ich mich bedroht fühle, mich verteidigen muss und die Erfahrung bei mir abgespeichert ist, dass Brüllen den anderen einschüchtert. Oder ich stelle mich stur, weil ich mich bedroht fühle, nicht weiter weiß und die Erfahrung abgespeichert ist, dass mir dann erst einmal nichts Gefährliches passieren kann; vielleicht geht die Bedrohung dann auch einfach vorüber. Unserem Nervensystem fällt spontan nichts besseres ein und deswegen lässt es uns so reagieren, wie wir reagieren. Erst zu einem späteren Zeitpunkt schaltet sich unser Bewusstsein dazu und ist irritiert.

Das gilt genauso für unsere Mitmenschen. Auch sie tun in jedem Moment das Beste, was ihnen einfällt. Warum werden manche Menschen in schwierigen Gespräch so schnell laut, brüllen und schreien, verletzen den anderen mit Worten und demütigen ihn. Warum schlagen manche Eltern ihre Kinder? Warum mobben Menschen ihre Arbeitskollegen im Betrieb oder andere in sozialen Netzwerken? Fällt denen wirklich nichts Besseres ein? Tatsächlich: Nein! Denn fiele ihnen etwas Besseres ein, würden sie das tun. Bestimmt! Niemand handelt für sich nur in zweitbester Weise. Niemand entscheidet sich für die schlechtere Lösung, wenn er eigentlich eine bessere weiß.

Das gleiche gilt auch für Kinder. Ein Junge, der ein anderes Kind haut, wenn die beiden in Streit geraten, hat schlicht und und einfach keine andere und in der Betrachtung der Erwachsenen bessere Idee, was er tun könnte, um mit seinem Ärger, mit seiner Frustration umzugehen. Ein Mädchen, das anderen Kindern Unwahrheiten über ihre ehemalige Freundin erzählt, um sie in ein schlechtes Licht zu rücken, hat keine bessere Idee, wie sie ihren Kummer über den Verlust der Freundschaft verarbeiten kann. Beiden fehlen die guten Ideen in für sie schwierigen Situationen.

Mit dieser Sichtweise auf das menschliche Verhalten, will ich kein Verhalten entschuldigen. Wer geschlagen wird, leidet. Über wen Unwahrheiten erzählt werden, leidet. Wer angebrüllt, gedemütigt oder gemobbt wird, leidet. Das ist wirklich nicht gut und es sollte nicht dazu kommen. Doch wenn wir genau hinschauen, können wir erkennen, dass die Verursacher des Leids selber auch leiden und keine bessere Idee haben, wie sie mit ihrem Leid, dem Ärger, der Wut, dem Kummer gut umgehen können als so, wie sie das aktuell tun.

Damit sich für diese Kinder etwas ändern kann, müssen Eltern und pädagogisches Personal zunächst einmal erkennen, in welcher Situation Kinder mit schwierigem Verhalten stecken. Sie müssen ihren Kummer und ihr Leid erkennen und ihre Hilflosigkeit, damit umzugehen. Und sie können ihnen dann neue, friedvollere Wege und Handlungsweisen zeigen, wie sie damit umgehen können.

Statt Schuldzuweisungen und Verurteilungen, durch die nur der Widerstand des Kindes provoziert wird und das Kind dann für neue Ideen nicht erreichbar ist, geht es darum, das Kind in seiner Situation ernst zu nehmen und für die Konsequenzen seines Handelns zu sensibilisieren. 

Ich sehe deinen Ärger, deinen Kummer, der durch das andere Kind oder durch die Situation ausgelöst wurde. Ich bin bei dir und möchte dich gerne unterstützen, eine Idee für dich zu finden, wie du damit so umgehen kannst, dass du und die anderen zufrieden sind.

Hier helfen keine Standardlösungen oder allgemeine Regeln, hier helfen nur ein gemeinsames Regulieren der starken Emotionen und ein Ausprobieren neuer, individueller Handlungsideen. Und das braucht Zeit. Wir dürfen auch nicht erwartet, dass neues Handeln gleich zur Gewohnheit wird und altvertraute Handlungsmuster ablöst. Verhaltensweisen, die unser Autonomes Nervensystem anschiebt, haben häufig eine starke Gewohnheitsenergie, die sich nur durch Beharrlichkeit ändern lässt.

Wir können aber nicht nur mit unseren Kindern nach bessere Ideen suchen; wir können auch unsere eigenen Gewohnheitsenergie überprüfen. 
Wie handle ich, wenn ich mich ärgere, mich bedrängt oder verletzt fühle? Bin ich  damit zufrieden? Was mache ich, wenn jemand unfreundlich zu mir ist? Unterstützt mein Handeln ein friedliches Miteinander? Oder lässt mein Handeln die Situation eskalieren? Was mache ich, um in solchen Situationen meine starken Emotionen zu regulieren, damit ich wieder zur Ruhe komme? Wie reguliere ich mich, wenn ich in Stress komme? 

Ein hilfreiches Werkzeug auf diesem Weg kann das Praktizieren von Achtsamkeit sein, das ruhige, vorurteilsfreie Hinschauen auf uns selbst, auf unsere körperlichen und mentalen Prozesse. Achtsamkeit ermöglicht das Anhalten von Gewohnheiten und das Entdecken neuer Pfade. Mit Achtsamkeit kommt man auf neue Ideen für sein Handeln, die man aber immer wieder beharrlich ausprobieren muss, damit sich wirklich etwas verändert.

Achtsamkeit ist etwas, was die meisten Menschen nicht gelernt haben. Deswegen ist es gut, wenn man sich für diesen Lernprozess Unterstützung holt. Dies können zum Beispiel Gruppen sein, die gemeinsam Achtsamkeit in Form von Yoga oder Meditation praktizieren. Dies können aber auch professionelle Coaches oder Therapeuten sein. Das Schöne ist, dass man in der Partnerschaft, der Familie oder im Freundeskreis Achtsamkeit gemeinsam üben und praktizieren kann. Und irgendwann werden Sie feststellen, dass sie jetzt auch in schwierigen Situationen etwas anders machen als früher, weil das jetzt das Beste ist, was Ihnen nun einfällt.

Was bei akuter Angst, Verzweiflung oder Panik hilft

Wenn Aufregung, Wut, Angst, Verzweiflung oder Panik Sie oder einen Menschen in Ihrem Umfeld erfasst, können die folgenden Übungen helfen: 1....