30. Juni 2018

Ehrfurcht oder Das Erleben des Unermesslichen

Wenn wir mit offenen Sinnen und offenem Geist durch die Welt und das Leben gehen, dann können wir über so manche Dinge, denen wir begegnen, ins Staunen kommen. Und manchmal werden wir auch ganz still vor Ehrfurcht.

Ehrfurcht ist das Gefühl, sich in der Gegenwart von etwas Größem als man selbst, etwas Unermesslichem zu befinden. 
Dies können Dinge und Ereignisse in der Natur, der Kunst und Kultur sein, aber auch besondere Menschen. Auf jeden Fall übersteigen sie in diesem Moment unser individuelles Verstehen der Welt.

Dacher Keltner, Professor für Psychologie an der University of California, hat in wissenschaftlichen Studien die Effekte und die Bedeutung von Ehrfurcht für den Menschen und die menschliche Gemeinschaft untersucht.

Keltner zeigt mehrere positive Auswirkungen der Ehrfurcht auf:
  • In der Gegenwart von großen Dingen zu sein, ruft ein bescheideneres, weniger narzisstisches Selbst hervor, das eine größere Freundlichkeit gegenüber anderen ermöglicht. Ehrfurcht bettet das individuelle Ich in eine soziale Identität ein. Konkret hat er festgestellt, dass Ehrfurcht Menschen dazu bringt, zusammenzuarbeiten, Ressourcen zu teilen und anderen freizügig zu geben.
  • Augenblicke der Ehrfurcht stimulieren das körperliche Wohlbefinden, unter anderem indem dieses Gefühl sich positiv auf den Zytokinspiegel (ein körpereigenes Protein) auswirkt, der Einfluss auf Entzündungen im Körper und unter anderem auch auf das Entstehen von Depressionen hat, wie deutsche Studien gezeigt haben. Die Dinge, die wir tun, um Ehrfurcht zu erleben - ein Spaziergang in der Natur, sich in Musik zu verlieren, Kunst zu betrachten - haben also einen direkten Einfluss auf Gesundheit und Lebenserwartung, sagt Keltner.
  • Und das Erleben von Ehrfurcht weckt auch die Neugier und den Forscherdrang im Menschen, der dann die Bereitschaft hat, sich länger mit schwierigen oder herausfordernden Aufgaben zu beschäftigen.
Und deshalb schlägt Keltner vor, dass wir uns Zeit nehmen, innezuhalten und die Gedanken für Dinge zu öffnen, die man nicht vollständig versteht. Denn Ehrfurcht ist nicht nur für das Wohlbefinden des einzelnen Menschen gut, sondern auch für die soziale Gemeinschaft, da Gefühle der Ehrfurcht das soziale Miteinander durch prosoziales und freundliches Handeln stärkt.

In Ihrem Buch "Kindern mehr zutrauen", weißt Michaeleen Doucleff daher auch darauf hin, wie wichtig es ist, die Entwicklung von Ehrfurcht bei Kindern zu fördern.  Kinder, denen dieses Gefühl zur Verfügung steht, können sich leichter in emotional schwierigen Situationen regulieren.

Staunen Sie also mit Ihren Kindern hin und wieder über die Unermesslichkeiten, denen Sie überall begegnen. Werden Sie gemeinsam sprachlos.


Links und Literatur:


Yasmin Anwar, Can Awe Boost Health? 

ZeitOnline, Wenn die Welt auf einmal still wird 

Michaeleen Doucleff, Kindern mehr zutrauen. Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen


27. Juni 2018

Sei doch mal ein bisschen empathisch!


Empathie ist etwas, zu dem in sozialen Prozessen gerne aufgefordert wird, häufig verbunden mit dem Vorwurf, dass es daran fehlt. Aber was bedeutet es denn empathisch zu sein? Mit wem kann ich empathisch sein? Und wie kann ich Empathie entwickeln?

Empathie für den Anderen

Empathisch mit dem Anderen zu sein, bedeutet, dem Mitmenschen achtsam und mitfühlend zu begegnen, insbesondere dann, wenn es ihm nicht gut geht. Man spricht hier von affektiver Empathie
Ich erkenne, wie es dem anderen Menschen geht. 
Ich gebe dem Raum und erkenne an, dass es dem Anderen tatsächlich so geht. 
Ich fühle mit, wenn er leidet, Angst hat oder traurig ist, wenn er gestresst oder überfordert ist. Ich zeige Mitleid. Dabei muss ich mir nicht zwangsläufig das Gefühl des Anderen zu eigen zu machen. 
Ich kann auch empathisch darauf reagieren, wenn der Andere Glück hat, erfolgreich ist, sich freut oder wenn er sich gut fühlt. Das nennt man dann Mitfreude. In der Regel erscheint es weniger notwendig, Mitfreude zu zeigen; scheinbar wird sie auch weniger eingefordert. Mitfreude zu zeigen ist jedoch gar nicht so leicht, wie es klingt, weil schnell auch Neid entstehen kann.

Mit Empathie ist darüber hinaus auch die Fähigkeit und Bereitschaft gemeint, die Perspektive des anderen auf Dinge, Fragen und das Leben insgesamt einzunehmen. Hier spricht man von kognitiver Empathie:
Ich bemühe mich, das Wahrnehmen und Denken und die daraus resultierenden Handlungen meines Gegenübers „wie er selbst“ zu verstehen. 
Ich will verstehen, wie der andere tickt, was seine Werte sind, aus welcher Perspektive er auf das Leben schaut, wonach er strebt und was für ihn Glück und Erfüllung bedeutet.
  • "Ich fange an zu verstehen, dass Familie für dich sehr wichtig ist, wichtiger als unsere Freundschaft, und du deshalb im Moment weniger Zeit für mich hast als früher."
  • "Ich erkenne, dass Reichtum und Besitz für dich Glück bedeuten und dass du deshalb so viel über Geld und Karriere redest.“
Emphatische Menschen, können den Anderen, seine Handlungsmotive und den Sinn dahinter besser verstehen und auf dieser Grundlage angemessener mit ihm in Beziehung treten. Meine Empathie ist also nicht nur gut für den Mitmenschen, indem es ihn in seinem momentanen Sosein anerkennt, sondern meine Empathie ist auch gut für mich, weil es mir ermöglicht, Begegnung mit dem Mitmenschen besser zu verstehen und angemessener zu handeln.

Empathie für mich

Häufig wird Empathie einseitig verstanden als Mitgefühl für den Mitmenschen, als das Bemühen, den Anderen zu verstehen. Doch Empathie ist auch eine Haltung, die ich mir selber gegenüber einnehmen sollte.

Ich bin empathisch für meine eigenen Gefühle und Emotionen; ich begegne meinem Schmerz, meiner Wut und meinem Kummer, aber auch meiner Freude und Ausgelassenheit achtsam und mit Mitgefühl. Ich gebe mir selber Anerkennung.
  • Ich merke, wie Traurigkeit in mir aufsteigst; ich spüre das und nehme es an. Ich versuche die Traurigkeit mit großer Ruhe zu betrachten. Ich laufe nicht weg vor ihr und ich will sie nicht verjagen.
  • Ich bemerke meine Freude über das, was passiert, und genieße es, wie sie meinen ganzen Körper vibrieren lässt.
Empathie mit mir zu haben, bedeutet aber auch, Klarheit zu gewinnen über meine eigenen Interessen, Werte, Haltungen und Sichtweisen auf die Welt, die alle miteinander mein aktuelles Denken, Sprechen und Handeln stark beeinflussen. Auf diese Weise komme ich mit meinem Selbst besser in Kontakt und mein Handeln kann mir verständlicher werden. 
  • Ich vermeide möglichst jeden Streit, weil ich aus meiner Herkunftsfamilie keine Streiterfahrung mitbringe. Ich gebe lieber klein bei, ordne mich unter und verbiege mich.
  • Ich brauche ganz viel Anerkennung, um glücklich sein zu können. Deshalb übernehme ich bei der Arbeit auch die ungeliebten Arbeiten und gehe damit über mein Limit.
Empathie für mich selbst und für andere sind wie zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig erfordern und ermöglichen: Wenn ich Empathie, also Mitgefühl und Verstehen für mich selber habe, kann sich die Ruhe und Klarheit in mir entwickeln, aus der heraus ich mich empathisch dem anderen Menschen zuwenden kann. Wenn ich in empathischem Kontakt mit mir selber bin, kann ich in mitfühlenden und verstehenden Kontakt mit anderen Menschen treten. Wenn ich mich liebe, kann ich auch andere Menschen bedingungslos lieben. Und wenn ich den Kontakt zu mir verliere, kann ich nicht mehr wirklich empathisch sein, weil meine Basis nicht stabil ist und mein Balance verloren geht.

Wie kann ich mein empathisches Potential entwickeln?

Am besten beginne ich, mein empathisches Potential in Bezug auf mich selbst zu entwicklen:
  • Ich übe, meinen Körper mit all seinen Gliedern, dem Herzen und den Organen zu spüren und als ein Ganzes zu erfahren. Ich bin wach mit allen Sinnen, offen und unvoreingenommen für alle körperlichen Sinneseindrücke.
  • Ich übe, meine Emotionen und Gefühle wahrzunehmen und achtsam anzunehmen. Ich verurteile nichts und lasse zu, was da ist, ohne es zu forcieren.
  • Ich übe, meinen Geist mit all seinen Gedanken, Ideen, Erinnerungen und Plänen zu betrachten und zur Ruhe kommen zu lassen. 
  • Ich übe, meinen Körper, meine Emotionen und meinen Geist miteinander zu verbinden.
Meditation und meditative Übungen können dafür einen Rahmen geben. Manchmal braucht es dafür die Unterstützung einer Gruppe oder eines Lehrers. In der achtsamen Meditation kann ich mich mit meinen vielfältigen Facetten besser kennen lernen und mich mir empathisch zuwenden: Das bin ich und das ist für den Moment gut so.

Eltern können dies gemeinsam mit ihren Kindern üben, indem sie immer wieder gemeinsam die Aufmerksam auf den Köper, die Emotionen und den Geist lenken. Mit Neugier und Achtsamkeit, können sie gemeinsam dem, was ist, nachspüren und das, was ist, zulassen, ohne es zu bewerten.

In Bezug auf andere Menschen kann ich mein empathisches Potential entwickeln, indem ich auf der sicheren Basis meines empathisch getragenen Selbstgefühls mit offenen Sinnen und klarem Geist Menschen begegne. Ich bin neugierig auf den Anderen, den Fremden. Ich höre ihnen achtsam zu, ohne zu meinen, alles schon zu wissen. Ich stelle meine Vorurteile in Frage und begebe mich auf eine Entdeckungstour: Wer ist der andere wirklich? Was sind seine Werte und Interessen? Was beschäftigt ihn? Welche Gefühle schwingen in ihm? Welche Impulse drängen in ihm? Was erwartet er von mir und vom Leben?

Die Entwicklung von Empathie kann nur Schritt für Schritt gelingen. Empathie ist ein Weg, den ich auf der Suche nach mir und dem Anderen beschreiten kann. Ich kann mich für diesen Weg entscheiden und er beginnt mit einem ersten Schritt.

Und Empathie ist nicht die Lösung eines Konflikts, sondern nur ein wichtiger, notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer Lösung. Die Lösung beginnt mir dem tiefen gegenseitigen empathisch Verstehen des Anderen und erwächst aus der gemeinsamen Suche nach Gemeinschaft im Angesicht  widerstrebender Interessen, Werte und Haltungen.

„Wenn jeder alles von dem Anderen wüsste, es würde jeder gern und leicht verzeihen, es gäbe keinen Stolz mehr, keinen Hochmut.“ 
Hafis 
(persischer Dichter des 14. Jahrhunderts)

14. Juni 2018

Gehorsame Kinder


Wollen Sie wirklich ein gehorsames Kind?

Irgendwie hat ja die Vorstellung vom gehorsamen Kind etwas Verlockendes; das Kind hört, was ich sage, und befolgt dies:
  • „Putz dir jetzt die Zähne und geh ins Bett.“ Und das Kind putzt sich die Zähne und geht ins Bett.
  • „Bringe bitte den Müll raus zur Mülltonne.“ Und das Kind bringt den Müll raus.
  • „Mache deine Hausaufgaben, bevor du spielen gehst.“ Und das Kind macht zuerst seine Hausaufgaben.
  • „Sei bitte zum Abendessen pünktlich wieder zurück aus dem Freibad.“ Und das Kind setzt sich pünktlich an den gedeckten Familientisch.
  • „Zank dich nicht immer mit deiner kleinen Schwester.“ Und die Kinder spielen freundlich miteinander.
  • „Pass in der Schule besser auf.“ Und das Kind passt besser auf.
Das klingt irgendwie gut, oder? Ein gehorsames Kind scheint das Familienleben doch sehr viel einfacher zu machen. Ich sage etwas und schon passiert das auch. Wunderbar! Nur - vielleicht leider, vielleicht Gott sei Dank - ist das nicht immer so. Und dennoch gibt es sie, die gehorsamen Kinder.

Wann und warum ist ein Kind gehorsam? 
Auf diese interessante Frage gibt es sicherlich eine Vielzahl von Antworten. Vereinfachend will ich hier drei Antworten geben und ein Versuch der Auflösung:

1. Antwort: Das Kind ist gehorsam, weil es weiß, dass die Eltern es sonst strafen.
Dann ist das Kind aber nicht wirklich gehorsam, sondern es ist ängstlich; es befolgt, was ich sage, weil es weiß, dass es ansonsten bestraft wird. Und es befolgt die Anweisung, die manchmal als Frage, machmal als Bitte verklausuliert ist, solange das Gefühl der Angst besteht. Aber was wird eines Tages passieren, wenn das Kind nicht mehr das Gefühl hat, Angst haben zu müssen.
  • „Bring bitte den Müll raus zur Mülltonne.“ - „Und wenn nicht? Willst du mich dann wieder sofort ins Bett schicken? Vergiss es!“
Gehorsam funktioniert nicht mehr, weil das dahinterstehende Druck- und Strafsystem nicht mehr funktioniert. Wie lange kann ich meinen Druck aufrecht erhalten, damit mein Kind weiter gehorsam bleibt? Wie viel Kraft will ich da hineinstecken?

2. Antwort: Das Kind ist gehorsam, nur so lange die Eltern zugegen sind.
Dann ist das Kind aber nicht gehorsam, sondern unaufrichtig. Sobald die Eltern nicht mehr anwesend sind, macht das Kind nicht mehr das, dem es vordergründig zugestimmt hat, sondern, was es will.
  • „Putz dir jetzt bitte die Zähne und geh ins Bett.“ - „Ja, mach ich.“
    Aber im Badezimmer läuft nur das Wasser, während das Kind im Comic liest; es legt sich anschließend ins Bett, doch sobald die Eltern ins Kino gegangen sind, schaltet es den Computer ein.
Die Aufforderung der Eltern zu Gehorsam lässt das Kind unehrlich werden. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind stimmt dann nicht mehr. Was habe ich dann von dem scheinbaren Gehorsam?

3. Antwort: Das Kind ist gehorsam, weil es aus Erfahrung weiß, dass die Anweisungen oder Aufforderungen der Eltern in der Regel sinnvoll sind.
Dann ist das Kind aber gar nicht nur einfach gehorsam, sondern es ist bereit, aktiv in den Willen der Eltern einzuwilligen, weil die Eltern sich für das Kind als Orientierung und Sicherheit gebende Instanzen bewährt haben. Sie sind in den Augen des Kindes ein sicherer Hafen. Kinder erleben sich mit solchen Eltern (im Sinne der von John Bowlby begründeten Bindungstheorie) als sicher gebunden. Solche Eltern werden ihrer Verantwortung für das Kind gerecht, besitzen daher Autorität und brauchen sich nicht autoritär zu gebärden.

Was aber, wenn das älter werdende Kind selbstbewusster und entscheidungsfreudiger wird, wenn es seine Vorstellungen und Möglichkeiten ausprobieren möchte? Was, wenn es etwas anderes als seine Eltern angemessen und sinnvoll findet?
  • "Mach deine Hausaufgaben, bevor du im Garten spielst." - "Meine Hausaufgaben mache ich später. Ich brauche erst etwas Bewegung. Ich habe nämlich den ganzen Vormittag in der Schule nur gesessen.“
Jetzt wäre Gehorsam aus der Sicht des Kindes nicht richtig. Gehorsam wäre unvernünftig für das Kind. Will ich in solch einer Situation trotzdem ein gehorsames Kind, ein Kind, das trotzdem aktiv in mein Wollen einwilligt?

Ja, gerne! 

Und gleichzeitig kann ich bereit sein, dem Kinder Verantwortung zu übergeben.

Auflösung:
In der gleichwertigen Gemeinschaft, ein von Jesper Juul formuliertes Konzept für das Miteinander in Familien und partnerschaftlichen Beziehungen (lesen Sie dazu meinen Post Gleichwürdigkeit in der Familie), lässt sich diese Situation gut auflösen. Zwei Punkte sind dabei wichtig:
  1. Ich nehme das Kind mit seinen Bedürfnissen und Werten wahr; ich sehe es, ich höre es und ich nehme es ernst.
    „Das ist also deine Idee?!“ - „Ja!“ - „Okay …“
    Auf diese Weise, erfährt es Anerkennung, die sein Selbstgefühl stärkt und die Basis für persönliche Verantwortung ist. Wer persönliche Verantwortung übernehmen kann, braucht nicht mehr gehorsam zu sein. Persönliche Verantwortung ist das Ergebnis eines Lern- und Erfahrungsprozesses, der nicht frühzeitig genug Schritt für Schritt durch Erwachsene ermöglicht und begleitet werden muss.
  2. Das Kind erfährt Respekt für seine Werte und Ziele, die es äußern und für die es eintreten kann, ohne verhöhnt, diffamiert, entwürdigt oder beschuldigt zu werden. Indem ihm Raum zur Verwirklichung gewährt wird, erlebt es seine eigene Integrität. Aus dieser Zufriedenheit heraus, kann es ein Gefühl dafür entwickeln, wie wichtig es ist, Respekt für die Integrität der Mitmenschen zu entwickeln. Der junge Mensch entwickelt eine Bereitschaft, aus Respekt vor dem anderen in das Wollen anderer aktiv einzuwilligen, obwohl er andere Vorstellungen hat. Er erkennt, dass Gemeinschaft nur möglich ist, wenn unterschiedliche Interessen miteinander in ein Gleichgewicht gebracht werden. Gleichzeitig entwickelt der Jugendliche ein Gespür dafür, wo er seine Einwilligung nicht geben kann, weil seine persönlichen Grenzen ansonsten verletzt werden würden.
Das alles können Kinder, die aus Angst oder nur vorgeblich gehorsam sind, nicht lernen. Diese Kinder lernen, dass Androhungen von Sanktionen und Gewalt ein erfolgreicher Weg sind. Sie entwickeln ein fragiles Selbstgefühl und werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen und Respekt für den anderen zu entwickeln. Als Erwachsene werden sie versuchen, ihren Willen durch Einschüchterung und Androhung von Gewalt durchzusetzen oder sich durchzumogeln, in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden.

Unsere Gesellschaft braucht also keine gehorsamen Kinder, sondern vielmehr Menschen, die wissen, was sie wollen und wofür sie einstehen, und aus Verantwortung für sich und die anderen entscheiden, ob sie einwilligen in das Wollen des anderen. Das ist ein Lernprozess, der in der frühen Kindheit beginnt, sich durch das Jugendalter zieht und erst mit dem Erwachsensein abgeschlossen ist.



9. Juni 2018

Das Beste, was mir einfällt

Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, warum Menschen in einer bestimmten Situation genau das tun, was sie tun? 
Oder auch warum Sie genau das machen, was Sie machen? Jetzt zum Beispiel?

Die Antwort ist einfach: 
Alle Menschen - also auch Sie! - tun und machen in jedem Moment des Lebens genau das, was sie tun und machen, weil das das Beste ist, was ihnen in der jeweiligen Situation einfällt. 
Würde den Menschen etwas Besseres einfallen, würden sie das tun. 
Was auch immer Sie also gerade tun, es ist das Beste was Ihnen gerade einfällt. Würde Ihnen etwas Besseres einfallen, würden Sie das tun, oder?

Jetzt sagen Sie vielleicht: Bei diesem schönen Wetter fällt mir schon ein, wie viel besser es wäre, an den Badesee zu fahren und mir einen schönen Tag zu machen, anstatt zur Arbeit zu gehen. Trotzdem gehe ich zur Arbeit.

Und warum tun Sie das? 
Weil das tatsächlich die bessere Idee, oder die im Moment beste Idee für Sie ist: Es vermeidet anstrengende Gespräche mit Ihrem Chef, erhält Ihnen den Arbeitsplatz, sichert Ihnen Ihr Einkommen, gibt Ihnen das gute Gefühl, zuverlässig und diszipliniert zu sein. Oder?

Vielleicht haben Sie sich schon einmal im Nachhinein dabei ertappt, dass Sie Ihrem Kind eine unsinnige Strafe aufgebrummt haben. "Das war dann doch nicht das Beste, was mir einfällt?!", werden Sie nun vielleicht fragen. - Doch, es war das Beste, was Ihnen in Ihrem Ärger in dieser Situation und auf die Schnelle einfiel. Sonst hätten Sie das mit Sicherheit nicht gemacht. Und da wird ein wichtiger Punkt deutlich:

Manchmal braucht man ein bisschen Zeit, Ruhe und Abstand zu einer Sache, um tatsächlich eine gute Idee für sein Handeln zu bekommen.

Es gibt aber auch Situationen, da reagiert man und fragt sich anschließend, warum man überhaupt so oder vielleicht sogar schon wieder so reagiert hat, wo man doch eigentlich weiß, dass das keine gute Idee ist, weil es nichts bringt außer weitere Schwierigkeiten. Warum werde ich immer so laut und angreifend, wenn ich mich über eine Sache ärgere? Warum habe ich mich so stur gestellt, statt vernünftigerweise einmal nachzugeben?

Das sind häufig Situationen, in denen wir gar nicht bewusst entscheiden, was wir tun. Hier entscheidet vielmehr unser autonomes Nervensystem auf der Grundlage, wie es die momentane Situation erlebt und  einschätzt, und der gespeicherten Lebenserfahrungen. 
Ich werde laut, weil ich mich bedroht fühle, mich verteidigen muss und die Erfahrung bei mir abgespeichert ist, dass Brüllen den anderen einschüchtert. Oder ich stelle mich stur, weil ich mich bedroht fühle, nicht weiter weiß und die Erfahrung abgespeichert ist, dass mir dann erst einmal nichts Gefährliches passieren kann; vielleicht geht die Bedrohung dann auch einfach vorüber. Unserem Nervensystem fällt spontan nichts besseres ein und deswegen lässt es uns so reagieren, wie wir reagieren. Erst zu einem späteren Zeitpunkt schaltet sich unser Bewusstsein dazu und ist irritiert.

Das gilt genauso für unsere Mitmenschen. Auch sie tun in jedem Moment das Beste, was ihnen einfällt. Warum werden manche Menschen in schwierigen Gespräch so schnell laut, brüllen und schreien, verletzen den anderen mit Worten und demütigen ihn. Warum schlagen manche Eltern ihre Kinder? Warum mobben Menschen ihre Arbeitskollegen im Betrieb oder andere in sozialen Netzwerken? Fällt denen wirklich nichts Besseres ein? Tatsächlich: Nein! Denn fiele ihnen etwas Besseres ein, würden sie das tun. Bestimmt! Niemand handelt für sich nur in zweitbester Weise. Niemand entscheidet sich für die schlechtere Lösung, wenn er eigentlich eine bessere weiß.

Das gleiche gilt auch für Kinder. Ein Junge, der ein anderes Kind haut, wenn die beiden in Streit geraten, hat schlicht und und einfach keine andere und in der Betrachtung der Erwachsenen bessere Idee, was er tun könnte, um mit seinem Ärger, mit seiner Frustration umzugehen. Ein Mädchen, das anderen Kindern Unwahrheiten über ihre ehemalige Freundin erzählt, um sie in ein schlechtes Licht zu rücken, hat keine bessere Idee, wie sie ihren Kummer über den Verlust der Freundschaft verarbeiten kann. Beiden fehlen die guten Ideen in für sie schwierigen Situationen.

Mit dieser Sichtweise auf das menschliche Verhalten, will ich kein Verhalten entschuldigen. Wer geschlagen wird, leidet. Über wen Unwahrheiten erzählt werden, leidet. Wer angebrüllt, gedemütigt oder gemobbt wird, leidet. Das ist wirklich nicht gut und es sollte nicht dazu kommen. Doch wenn wir genau hinschauen, können wir erkennen, dass die Verursacher des Leids selber auch leiden und keine bessere Idee haben, wie sie mit ihrem Leid, dem Ärger, der Wut, dem Kummer gut umgehen können als so, wie sie das aktuell tun.

Damit sich für diese Kinder etwas ändern kann, müssen Eltern und pädagogisches Personal zunächst einmal erkennen, in welcher Situation Kinder mit schwierigem Verhalten stecken. Sie müssen ihren Kummer und ihr Leid erkennen und ihre Hilflosigkeit, damit umzugehen. Und sie können ihnen dann neue, friedvollere Wege und Handlungsweisen zeigen, wie sie damit umgehen können.

Statt Schuldzuweisungen und Verurteilungen, durch die nur der Widerstand des Kindes provoziert wird und das Kind dann für neue Ideen nicht erreichbar ist, geht es darum, das Kind in seiner Situation ernst zu nehmen und für die Konsequenzen seines Handelns zu sensibilisieren. 

Ich sehe deinen Ärger, deinen Kummer, der durch das andere Kind oder durch die Situation ausgelöst wurde. Ich bin bei dir und möchte dich gerne unterstützen, eine Idee für dich zu finden, wie du damit so umgehen kannst, dass du und die anderen zufrieden sind.

Hier helfen keine Standardlösungen oder allgemeine Regeln, hier helfen nur ein gemeinsames Regulieren der starken Emotionen und ein Ausprobieren neuer, individueller Handlungsideen. Und das braucht Zeit. Wir dürfen auch nicht erwartet, dass neues Handeln gleich zur Gewohnheit wird und altvertraute Handlungsmuster ablöst. Verhaltensweisen, die unser Autonomes Nervensystem anschiebt, haben häufig eine starke Gewohnheitsenergie, die sich nur durch Beharrlichkeit ändern lässt.

Wir können aber nicht nur mit unseren Kindern nach bessere Ideen suchen; wir können auch unsere eigenen Gewohnheitsenergie überprüfen. 
Wie handle ich, wenn ich mich ärgere, mich bedrängt oder verletzt fühle? Bin ich  damit zufrieden? Was mache ich, wenn jemand unfreundlich zu mir ist? Unterstützt mein Handeln ein friedliches Miteinander? Oder lässt mein Handeln die Situation eskalieren? Was mache ich, um in solchen Situationen meine starken Emotionen zu regulieren, damit ich wieder zur Ruhe komme? Wie reguliere ich mich, wenn ich in Stress komme? 

Ein hilfreiches Werkzeug auf diesem Weg kann das Praktizieren von Achtsamkeit sein, das ruhige, vorurteilsfreie Hinschauen auf uns selbst, auf unsere körperlichen und mentalen Prozesse. Achtsamkeit ermöglicht das Anhalten von Gewohnheiten und das Entdecken neuer Pfade. Mit Achtsamkeit kommt man auf neue Ideen für sein Handeln, die man aber immer wieder beharrlich ausprobieren muss, damit sich wirklich etwas verändert.

Achtsamkeit ist etwas, was die meisten Menschen nicht gelernt haben. Deswegen ist es gut, wenn man sich für diesen Lernprozess Unterstützung holt. Dies können zum Beispiel Gruppen sein, die gemeinsam Achtsamkeit in Form von Yoga oder Meditation praktizieren. Dies können aber auch professionelle Coaches oder Therapeuten sein. Das Schöne ist, dass man in der Partnerschaft, der Familie oder im Freundeskreis Achtsamkeit gemeinsam üben und praktizieren kann. Und irgendwann werden Sie feststellen, dass sie jetzt auch in schwierigen Situationen etwas anders machen als früher, weil das jetzt das Beste ist, was Ihnen nun einfällt.

Was bei akuter Angst, Verzweiflung oder Panik hilft

Wenn Aufregung, Wut, Angst, Verzweiflung oder Panik Sie oder einen Menschen in Ihrem Umfeld erfasst, können die folgenden Übungen helfen: 1....