- Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.
- Meine Erinnerungen fühlen sich fremd an.
- Und die Zukunft hat keine Bedeutung.
- Alles dreht sich nur noch um die eine Sache.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden nicht mehr als etwas Zusammenhängendes erfahren. Die zeitliche Abfolge von Ereignissen ist zerfallen. Das furchtbare Geschehen wird nicht als abgeschlossene und bewältigte Vergangenheit erlebt, sondern als noch immer schmerzvoll in Körper, Emotionen und Geist gegenwärtig. Die Vorstellung einer unbeschwerten Zukunft gibt es nicht. Das Gefühl, dass das eigene Leben und Erleben Zusammenhang, Fortschritt und Sinn hat, ist verloren gegangen. Die innere Stimmigkeit oder Kohärenz ist zerfallen, das Selbst zersplittert oder fragmentiert.
Ziel der Traumatherapie ist es, diese Fragmentierung des Selbsterlebens zu heilen, indem das, was zersplittert wurde, wieder in Beziehung zueinander gebracht wird. Das entstandene Chaos wird geordnet und das Erstarrte kommt wieder in Fluss. In einem Prozess der körperlichen, emotionalen und geistigen Neuorientierung kann der Mensch sein Gefühl für innere Stimmigkeit und Kohärenz wiederfinden. Alle Erfahrungen des Lebens finden ihren Platz in einer sinnerfüllten und erzählbaren Lebensgeschichte. Auf der Grundlage des aktualisierten Selbsterlebens wird es möglich, wieder Entscheidungen für das vor einem liegende Leben treffen.
Im folgenden Schaubild ist in vereinfachter Form dargestellt, wie sich in der Traumatherapie aus verlorener Kohärenz durch Prozesse der Integration des fragmentierten Erlebens eine neue Kohärenz entwickeln kann.
Kohärenz ist ein Lebensgefühl. Die eigenen Wahrnehmungen, die Empfindungen, das Denken, die Emotionen und das Handeln werden als zusammenhängendes und zugleich dynamisches Ganzes erlebt, als individuell verstehbar, handhabbar und sinnvoll erfahrbar. Der Verlust dieses Lebensgefühls infolge eines erschütternden Ereignisses und die daraus entstandene Fragmentierung des Selbst können als posttraumatische Belastung erlebt werden.
In der Traumatherapie können die Fragmente des Selbst wieder so zusammengefügt und miteinander integriert werden, dass erneut ein Ganzes entsteht: verstehbar, handhabbar und sinnvoll. Dies geschieht durch drei spiralförmig miteinander verbundene Prozessen.
1. Aktivierung eigener Ressourcen
Zunächst werden eigene Ressourcen, die aus dem Blick geraten sind, behutsam wieder in den Blickpunkt gerückt und gestärkt. Dabei wird einerseits an die Zeit vor dem Trauma angeknüpft und andererseits das Hier und Jetzt als lebendiger und sicherer Ort erfahrbar gemacht. Wichtige Aspekte sind hier das Erkennen sozialer Ressourcen in der Gegenwart, das Wahrnehmen von Momenten der Dankbarkeit im Alltag sowie die achtsame Hinwendung zu einer gesunden Lebensführung, die das körperliche Wohlbefinden unterstützt.
2. Entwicklung neuer Kompetenzen
Nach und nach kann dann damit begonnen werden, Kompetenzen zu entwickeln, die Selbstfürsorge sowie Handlungsfähigkeit stärken und zu einer besseren Orientierung in Körper und Geist führen. Dies wird eine bessere Entscheidungsfindung unterstützen.
Dazu gehören körperorientierte Übungen der Erdung, der Stabilität, der Ausdehnung und Kontraktion, des Kontakts sowie der Grenzsetzung. Die Einbeziehung einfacher Atem- und Körperübungen aus dem Yoga kann darüber hinaus die Harmonie von Körper und Geist im Hier und Jetzt anregen und vertiefen.
Eine wichtige Praxis ist die Vertiefung der Selbstwahrnehmung durch regelmäßige achtsame Betrachtung der fünf Aspekte des Selbsterlebens: Wahrnehmungen, Empfindungen, mentalen Prozesse, Emotionen und Handlungsimpulse. Sie fördert Orientierung und ein fortlaufendes Aktualisieren des Selbst.
Meditative Übungen, die Wertschätzung, Achtung und Mitgefühl für sich selbst stärken, vervollständigen diese Entwicklung im mentalen Bereich.
Durch regelmäßiges Praktizieren werden sich Fortschritte hinsichtlich innerer Stabilität und Ruhe sowie Klarheit im Handeln einstellen. Wichtig ist, diese auch regelmäßig bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren. So entsteht ein solides Fundament für die nächste Phase: die Konfrontation mit belastenden Emotionen, die mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind.
3. Konfrontation mit leidvollen Emotionen
Mit zunehmender mentaler und emotionaler Stabilität im Hier und Jetzt entsteht auch die Möglichkeit, sich den schmerzvollen Emotionen, die mit dem erschütternden Ereignis in Verbindung stehen, reguliert zuzuwenden. Hilfreiche therapeutische Konzepte sind dabei die Verkörperung von belastenden Emotionen, wie Raja Selvam sie in der Integralen Somatischen Psychologie praktiziert, und die sogenannte „Nadelöhr-Arbeit“ von Peter Levine, bei der es um die feinfühlige Begleitung äußerst tiefgreifender und oft existenzieller psychischer Verletzungen geht. In beiden Konzepten steckt die Idee der Befreiung von der Angst vor Emotionen, damit die durch sie blockierten Lebensenergien wieder frei fließen können.
Posttraumatisches Wachstum
Die auf diesem spiralförmigen Weg Schritt für Schritt entstehende Kohärenz wird ein lebendiges Bild des eigenen Lebens mit seinen vielen Facetten sein. Sie wird neu sein, da sie die leidvollen Erfahrungen von Verlust des Geliebten, Zerstörung des Gewohnten und gegebenenfalls das Noch-nie-Dagewesene miteinschließt. Auf diesem Weg des posttraumatischen Wachstums erweitern sich die Perspektiven auf das eigene Leben und das Selbst gewinnt an Resilienz.
Ob ein Mensch in einem Zustand der posttraumatischen Belastung stecken bleibt, hängt also entscheidend davon ab, was er mit und aus dem, was er erlebt hat, schöpferisch macht. So wie aus vielen Wörtern nur dann ein Gedicht und aus vielen Noten nur dann eine Melodie wird, wenn ein kreativer Mensch sie dichtet und komponiert, so kann auch aus einem fundamental erschütterten Leben nur dann wieder ein erfülltes Leben werden, wenn die Fragmente schöpferisch zusammenfügt werden.
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