7. Dezember 2019

Wie geht‘s eigentlich deiner mentale Gesundheit?

In letzter Zeit ist in den Nachrichten immer wieder zu lesen, dass die mentale Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen abnimmt und psychische Erkrankungen im Schulalter zunehmen.

Was können Sie als Eltern da tun?

Ganz grundsätzlich sollten Sie natürlich versuchen, Ihren Kindern ein Lebenssituation zu schaffen, die ihnen ein gesundes körperliches und mentales Aufwachsen ermöglicht. Dazu gehören 
  • das Anbieten einer sicheren Bindung und die Stärkung des Zughörigkeitsgefühl,
  • das Schaffen von Sicherheit auf körperlicher, sozialer und emotionaler Ebene und die Förderung von Selbständigkeit,
  • ein ausgewogener Wechsels von Aktivität und Ruhe sowie die Entwicklung der Exekutivfunktionen.
Darüber hinaus sind zwei Dinge möglich und sinnvoll:

1. Mit Kindern über Emotionen und Gefühle sprechen

Sie können mit Ihren Kindern über Emotionen und mentale Gesundheit  altersangemessen sprechen, einen guten Umgang mit schwierigen Emotionen entwickeln helfen und gemeinsam über Ursachen für emotionales Verhalten nachdenken. Am besten fangen Sie tatsächlich damit an, wenn Ihre Kinder noch klein sind. Denn dann haben Sie eine gute Grundlage geschaffen für die manchmal recht herausforderndere Zeit der Pubertät und Adoleszenz.
  • Sie können damit beginnen, Gefühle im Körper aufzuspüren: Wo kribbelt, pulsiert, zittert es? Wo wird etwas hart oder weich, kalt oder heiß? Wo will sich etwas bewegen, ist schwer oder zappelig? Wo steckt Kraft oder Müdigkeit?
  • Schon früh können sie beginnen, Gefühle zu benennen und zu differenzieren. Es gibt viel mehr Gefühle zu entdecken als nur glücklich, traurig und wütend. Finden Sie mit Ihrem Kind gemeinsam heraus, was zum Beispiel der Unterschied ist zwischen beflügelt und beschwingt zu sein, zwischen bedrückt und niedergeschlagen. Gefühle stecken sehr differenziert im Körper - spüren Sie sie auf!
  • Überlegen Sie gemeinsam, wie man gut mit Gefühlen umgehen kann: Was kann ich machen, wenn ich betrübt oder durcheinander bin? Wie gehe ich damit um, wenn ich eifersüchtig bin? Seien Sie neugierig und finden es gemeinsam heraus.
  • Entwickeln Sie gemeinsame Rituale, in denen Sie gute und schwierige Gefühle miteinander teilen. Seien Sie offen insbesondere auch für die schwierige Gefühle Ihrer Kinder, damit Ihre Kinder nicht glauben, sie müssten sie vor Ihnen verstecken. Halten Sie schwierige Gefühle einfach miteinander aus und vertrauen Sie darauf, das sie temporär sind. Es ist okay, wenn Kinder auch mal enttäuscht, frustriert, gereizt oder griesgrämig sind. 
  • Erklären Sie Ihrem KInd, dass das Entstehen von Emotionen damit zusammenhängt, ob für den Menschen eine Situation sicher oder gefährlich erscheint und inwieweit er sich dieser Situation gewachsen fühlt. Emotionen sind autonome Reaktionen unseres Nervensystems, die uns wichtige Hinweise geben, ob die Situation für uns stimmt. Sie sind keine Entscheidungen, die wir treffen, sondern Signale, die uns unser Körper schickt. Ausführlich erklärt habe ich das in dem Video „Der Polyvagal-Kreis“ (https://m.youtube.com/watch?v=2hc9PPN7L2c).
  • Erklären Sie ihrem Kind, dass der Mensch Emotionen regulieren und Verantwortung für den Umgang mit ihnen übernehmen kann. Kinder können gemeinsam mit ihren Eltern lernen, Emotionen und Gefühle mit Achtsamkeit zu bemerken und anzuhalten, sich zu beruhigen und dann mit Hilfe ihrer erwachenden Einsicht zu entscheiden, was sie tatsächlich machen wollen.
2. Problematische Zustände und Verhaltensweise erkennen

Es ist nicht immer leicht, klar zu erkennen, ob ein junger Mensch tatsächlich Probleme mit seiner mentalen Gesundheit hat, denn die Symptome von psychischen Erkrankungen (z.B. Angststörung, Depression oder Trauma) sind sehr unterschiedlich. Es gibt jedoch einige Ausdrucks- und Verhaltensweisen, die darauf hindeuten können, dass Kinder möglicherweise psychische Probleme haben. Dazu gehören
  • häufige Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen (die leichter zu verbalisieren sind als schwierige Emotionen),
  • der Verlust von alten Interessen und die Aufgabe von Freundschaften,
  • anhaltende Veränderungen der emotionalen Gestimmtheit, des Schlafens und der Essgewohnheiten,
  • deutliche Veränderungen der Schulleistungen und der Einstellung zur Schule,
  • soziale Isolation,
  • Todessehnsucht und 
  • übermäßig riskantes Verhalten.
Dabei ist nicht jede Veränderung gleich ein Ausdruck psychischer Probleme. Manche Stimmungsschwankungen und Veränderungen des Verhaltens sind einfach auch nur ein Ausdruck des Älterwerdens. Ein wichtiger Hinweis ist es, ob die Veränderungen gravierend und länger anhaltend sind oder das Funktionieren im Alltag beeinträchtigen.

Wenn Sie Dinge beobachten, die Sie aufmerken lassen, dann sollten Sie nicht wegschauen und hoffen, dass es nicht so schlimm ist, sondern aktiv werden:
  • Sprechen Sie auffälliges Verhalten an, ohne es zu dramatisieren. Teilen Sie mit, welchen Eindruck Sie haben und fragen Sie Ihr Kind, ob Sie damit richtig liegen. Erkunden Sie, ob das Gefühl gegebenenfalls auch mit jemand anderem zusammenhängt? Machen Sie deutlich warum Sie fragen: Ich frage dich, weil du mir wichtig bist und weil ich den Eindruck habe, dass es dir nicht gut geht. Ich möchte für dich dasein.
  • Machen Sie in ruhiger und unaufgeregter Weise klar, dass und wie sie tätig werden, wenn Sie, z. B. aufgrund von gefährlichem und gesundheitsschädigendem Verhalten oder geäußerter Todessehnsucht, den Verdacht haben, dass das Leben in Gefahr ist.
Die alltägliche Praxis gemeinsamer Gespräche über mentale Gesundheit sind nicht nur in Hinblick auf die Bewältigung von Krisensituationen hilfreich, sondern auch ganz allgemein für ein bewussteres und achtsames Leben. Sie fördern die Resilienz, also die Fähigkeit widrige Lebenserfahrungen konstruktiv zu bewältigen, die Zufriedenheit und das Lebensglück.

Und wenn Sie sich unsicher fühlen und den Eindruck haben, dass die mentale Gesundheit Ihres Kindes tatsächlich anhaltend aus der Balance geraten ist, dann sollten Sie sich nicht scheuen, einen Experten zu Rate zu ziehen. Schließlich kurieren Sie schwerwiegende körperliche Krankheiten auch nicht selbst. Oder?


8. Oktober 2019

Warum immer wieder diese Wut?



Wut ist eine wichtige Emotion, die immer dann auftaucht, wenn irgendetwas z.B. für ein Kind richtig gefährlich oder bedrohlich erscheint. Dabei ist es egal, ob dann Erwachsene denken: „Aber da ist doch gar nichts.“

Wut mobilisiert alle zur Verfügung stehende Kraft und Energie, um die persönliche Unversehrtheit zu schützen oder zu verteidigen. Dabei neigt die Wut dazu, unverhältnismäßig zu sein; Wut wägt nicht ab; losgelassene Wut ist blind.
Die Einschätzung, ob etwas gefährlich ist oder nicht, ist keine vernünftige Entscheidung, sondern eine blitzschnelle emotionale Reaktion unseres autonomen Nervensystems. Dabei werden alle bisher gemachten und als bedrohlich empfundenen Lebenserfahrungen unbewusst mitberücksichtigen: Wann und wie oft bin ich schon in beängstigender Weise zu kurz gekommen? Wo musste ich kämpfen oder mich widersetzen? Wie gut konnte ich mich mit meiner Wut verteidigen? Wie erfolgreich fühlt sich diese Energie der Wut an?
Je öfter das Kind sich mit seiner Wut erfolgreich fühlt, desto häufiger wird Wut als autonome Strategie zum Einsatz kommen. Denn was zum Erfolg führt, wird zukünftig verstärkt genutzt.
In solchen schnellen autonomen Entscheidungsprozessen kann es auch leicht zu Fehleinschätzungen von Situationen kommen. Eigentlich harmlose Ereignisse im Hier & Jetzt erinnern an gefährliche Situationen aus dem Dort & Damals und werden vorsichtshalber mit Wut, der erfolgreichen Verteidigungsstrategie, beantwortet.
Weil Wut eine so mächtige Energie ist, müssen Kinder lernen, mit ihrer Wut vernünftig umzugehen, damit kein unnötiger Schaden entsteht. Und dafür brauchen sie Erwachsene, die sie effektiv in ihrer Selbstregulation unterstützen.
Umgehen mit Wut
Für einen wirklich hilfreichen Umgang mit Wut ist es absolut wichtig zu verstehen, dass kein Kind sich bewusst dafür entscheidet, wütend zu werden. Ein Kind wird wütend, wenn sein autonomes Nervensystem zu der Einschätzung gelangt:
„Achtung! Es besteht eine gefährlich Bedrohungssituation, der entschieden und unmissverständlich entgegengetreten werden muss.“
In diesem Verstehen liegt dann auch ein erster Schritt zu einer Lösung.
Das Nervensystem muss beruhigt werden; es muss zu einer neuen Einschätzung kommen: Die Situation ist gar nicht gefährlich, sondern nur frustrierend. Oder: Jetzt ist die Situation sicher.
Wie kann das gehen?
Bei einem Wutanfall rast der Herzschlag, überschlägt sich die Atmung und sind die Muskeln an vielen Stellen des Körpers übermäßig angespannt. Diesem stark aktivierten Körper darf nicht noch mehr Energie durch Ungeduld, Schuldzuweisungen, grobes Anfassen und Herumschieben oder viel Reden und Anschreien zugeführt werden. Die starke Energie muss vielmehr langsam, sehr langsam aus dem Körper herausgeleitet werden. Dabei können Erwachsene sich vorstellen, wie ein Schwamm die viele Energie aufzusaugen und an anderer Stelle zu entsorgen. Das Entsorgen der aufgesogen Energie ist dabei sehr wichtig, damit Sie als Schwamm weiterhin gut funktioniert.
Mit folgenden acht Schritten können Sie sich und das Kind durch einen Wutanfall leiten:

1. Nehmen Sie die Wut des Kindes als momentan gegeben an. Sagen Sie sich: Im Moment ist das so! Und versuchen Sie, so ruhig wie möglich zu bleiben: Ich sehe deine Wut.

2. Lassen Sie dem Kind Zeit, seine Wut konkret im Körper spüren: Wo in deinem Körper spürst du die Wut? In den Fäusten? Im Kiefer? In den Beinen? Im Bauch? Wie fühlt sich das an?

3. Geben Sie der Energie der Wut Raum. Zeigen Sie dem Kind gesunde Wege, die Energie zu spüren - aber reguliert und langsam! Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten:

- Lassen Sie sich durch (kontrolliertes) Drücken und Pressen mit Händen, Füßen oder auch dem ganzen Körper zeigen, wie stark die Wut ist.

- Spielen Sie gemeinsam große starke Tiere: Stampfen Sie wie ein Elefant, brüllen Sie wie ein Löwe, fauchen Sie wie ein Jaguar, trommeln Sie sich auf die Brust wie ein Gorilla. Nehmen Sie das ganze nicht zu ernst, sondern suchen Sie den Spaß und das Lachen dabei.

- Wechseln Sie ab zwischen Anspannung und Entspannung: Spannen Sie die Muskeln an, bis es fast nicht mehr geht, und lassen dann los. Atmen Sie kräftig ein und dann langsam und viel länger aus.

- Probieren Sie Kinder-Yogaübungen aus , die das Kanalisieren der Energie unterstützen.

4. Unterbrechen Sie auf jeden Fall ein Ausagieren der Wut. Sagen Sie, was unvernünftige Handlungen sind, und zeigen Sie Ihre Grenzen. Leiten Sie ruhig und liebevoll auf den gesunden Weg, die Energie zu spüren, zurück.

5. Bleiben Sie präsent. Verbinden Sie sich mit dem Kind. Zeigen Sie, dass Sie für das Kind da sind. Es sollte spüren, dass Sie nicht sein Feind sind. Fördern Sie ein gemeinsames Gefühl der Zufriedenheit und des Glücklichseins.

Je mehr Ruhe wieder entsteht, um so mehr können Sie die gemeinsam altersangemessene vernünftige Überlegungen anstellen und die Situation besprechen. Manchmal ist ein Besprechen aber auch gar nicht notwendig. Prinzipiell ist das aber sinnvoll.

6. Sie können dem Kind erklären, dass Wut eine Verteidigungsstrategie ist, die das Kontrollzentrum (die Vernunft) ausschaltet, und das es wichtig ist, dieses Kontrollzentrum durch langsames Spüren und Atmen wieder einzuschalten.

7. Abschließend können Sie dann gegebenenfalls noch die auslösende Situation gemeinsam betrachten und möglicher Weise auftauchende Gefühle von Scham auflösen.

8. Freuen Sie sich, dass Sie es geschafft haben, ein Kind mit seiner Wut zu koregulieren!

Wenn Erwachsene selbst gestresst sind, Schwierigkeiten mit eigener Wut haben und wenig Zeit im Alltag für Kinder gegeben ist, dann bleibt in der Regel auch wenig Zeit und Energie für diese Form des Umgangs mit Wut. Nichtsdestotrotz ist es notwendig, dem Kind mit seiner Wut zu helfen, anstatt es allein zu lassen, auszugrenzen oder zu verurteilen. Nur dann wird sich etwas ändern.

6. Oktober 2019

Kinder mit starkem Willen



Insbesondere Kinder mit einem starken Willen brauchen vor allen Dingen eins: starke Erwachsene. Sie brauchen Eltern, die mit Neugier, Freude und Freundlichkeit, mit Klarheit und Ruhe sowie mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit immer wieder den Weg suchen, auf dem die Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte ihrer Kinder und ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte in eine Balance kommen.
Diesen Weg zu finden, ist keine einfache Aufgabe, die einmal erledigt ist, sondern die sich fortwährend neu stellt, ständig verändert und immer eine Aufgabe bleibt.
Denn wenn in einer Beziehung der Mensch - egal ob Kind oder Erwachsener - hinsichtlich seiner Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte immer wieder zu kurz kommt, erwachen Ärger, Wut, Kummer, Verzweiflung oder Resignation. Diese emotionalen Zustände, die natürlich nicht auf entspannte soziale Interaktion abzielen, sondern auf die Verteidigung der eigenen körperlichen Unversehrtheit („Bleib mir bloß vom Leib!“) und psychischen Sicherheit („Ich mach, was ich will!“) führen dann zu all dem schwierigen Verhalten, das das Miteinander in der Familie so belastet.

Wenn Sie also ein Kind mit starkem Willen haben, ein Kind, das nicht einfach das tut, was Sie wollen, sondern sehr massiv - und in Ihren Augen vielleicht auf unangemessene Weise - betont, was es selber will, dann sollten Sie zunächst einmal bedenken, dass es dies nicht tut, um Ihnen das Leben schwer zu machen, sondern um sich ein Gefühl der Sicherheit zu verschaffen, indem es nicht einfach folgt, sondern sich für sich entscheidet. Und dann sollten Sie in aller Ruhe einige Dinge bedenken, bevor Sie irgendetwas Unüberlegtes tun.

Erster Schritt: Wer bin ich?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass Sie sich als Elternteil Klarheit über sich selbst verschaffen: Wie gut kenne ich mich, und wie wichtig und ernst nehme ich mich an welcher Stelle? Je klarer Sie sind, desto standfester können Sie handeln. Denn auch das, was sie nicht klar sehen, wirkt sich im Untergrund Ihres Bewusstseins auf Ihr Sein und Ihr Handeln aus.
Darum: Was sind meine Bedürfnisse (z.B. Verbundenheit, mehr Zeit für mich, mehr Schlaf), meine Interessen (z. B. Ordnung, mal wieder ins Kino oder Museum gehen), meine Ziele und Werte (z. B. empathisches Miteinander, Respekt, nachhaltiges Konsumieren)? Welche kann ich momentan für mich befriedigen oder erreichen? Wo muss ich - wem zuliebe? - meine Interessen zügeln oder meine Ziele relativieren? Und an welchen Punkten bin ich dazu auch wirklich bereit? An welchen Stellen bin ich unzufrieden?
Wie gehe ich mit Unzufriedenheit, Frustration und den daraus resultierenden schwierigen Gefühlen um? Wie gut kann ich mich regulieren und entspannen? Was tue ich, um auch in schwierigen Situationen ein liebevolles Herz und einen klaren Kopf zu behalten?
Diese Fragen werden sich nicht alle auf einmal und ein für alle Mal klären lassen; das Finden der Antworten wird ein Prozess sein.

Zweiter Schritt: Wer ist mein Kind?
Entwickeln Sie eine neugierige und gleichzeitig respektvolle Haltung, aus der heraus Sie immer wieder herausfinden wollen, wer Ihr Kind eigentlich ist. Dies ist notwendig, damit Sie besser wissen, mit wem Sie es tatsächlich zu tun haben. Denn nur wenn Sie das wissen, können Sie angemessen auf Ihr Kind eingehen. Andernfalls greifen alle Ihre Bemühungen mit großer Wahrscheinlichkeit ins Leere.
Darum: Welche Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte hat mein Kind? Was sind möglicherweise Gründe für sein momentanes Verhalten oder seine momentanen Interessen? Versuchen Sie die unter der Oberfläche verborgenen Ursachen und Gründe zu entdecken.
Welches Lebensgefühl herrscht bei meinem Kind vor: Zufriedenheit? Resignation? Euphorie? Unsicherheit? Traurigkeit? Gibt es dabei Unterschiede je nach Situation?
Wie gut gelingt ihm schon die Impulskontrolle, die Steuerung der Aufmerksamkeit und die Handlungsplanung. Wie gut kann es schon seine Emotionen regulieren?
Auch hier werden Sie nicht alle Antwort auf einmal finden, zumal sich alles immer im Laufe der Zeit auch verändern wird. Und auch diese Veränderungen gehören dazu und brauchen Beachtung.

Dritter Schritt: Wer sind wir?
Wenn Sie nun einerseits langsam eine klarere Idee davon haben, wer Sie selbst sind und wer Ihr Kind ist, müssen Sie andererseits noch herausfinden, wie Sie die Beziehung zu Ihrem Kind und das Familienleben gestalten wollen:
Welche meiner Ziele und Werte, welche Lebensweisen will ich meinem Kind überhaupt vermitteln? Und welche Strategien habe ich dafür?

Ich empfehle Ihnen einen Weg zu gehen, der sich durch Warmherzigkeit, Entschlossenheit und Unterstützung auszeichnet, einen Weg, der die gesunde Entwicklung des ganzen Menschen mit seinem Körper und seinem Geist einschließt. Dieser Weg liegt nicht geebnet vor Ihnen und wird kein Spaziergang sein, sondern er führt als Entdeckungsreise mitten durch das wilde Gestrüpp des Lebens und erfordert immer wieder Ihre Entschlossenheit:

1. 
Gehen Sie mit gutem Beispiel voran! Ihr Kind wird vor allen Dingen das von Ihnen lernen, was Sie ihm authentisch vorleben und wie Sie wirklich sind, und weniger das, was Sie sagen.

2.
Fördern Sie bei Ihrem Kind sehr grundsätzlich ein Gefühl der Sicherheit und Verbundenheit mit Ihnen, indem Sie elterliche Präsenz zeigen. Lassen Sie Ihr Kind erleben, dass Sie es sehen, hören und ernst nehmen. Vermeiden Sie das Entstehen von anhaltendem Stress im Miteinander.

3.
Entwicklen Sie mit Hilfe von Entspannungsübungen und Achtsamkeit die Fähigkeit, Emotionen und Handlungsimpulse zu regulieren - bei sich selbst und dann immer wieder auch bei Ihrem Kind in Form von unterstützender Koregulation. Seien Sie der Fels in der Brandung, an dem sich Ihr Kind, wenn es emotional hoch hergeht, orientieren und festhalten kann.

4.
Schaffen Sie immer wieder Raum und Zeit für Gespräch, in denen auch schwierige Emotionen und Gefühle sein dürfen, ohne dass diese ausagiert werden. Richten Sie gemeinsam immer wieder den Blick darauf, wie Emotionen im Körper spürbar sind. Lassen Sie den Körper durch Übungen der wechselnden Anspannung und Entspannung zur Ruhe kommen.

5.
Messen Sie die Qualität der Gespräche vor allen Dingen daran, wie gut Sie selbst zuhören können und wie wenig Aussagen Sie über den anderen machen.

6.
Versuchen Sie immer wieder durch bewusstes und für Ihr Kind miterlebbares Mentalisieren zu einem tieferen Verstehen Ihres Kindes zu gelangen, indem Sie seine Perspektive aktiv einnehmen und sich vorstellen, wie sich die Situation für Ihr Kind anfühlen könnte, ohne jedoch vorschnell Verständnis zu entwickeln. Mentalisieren bedeutet darüber hinaus auch, dass Sie sich selbst und Ihr Handeln von außen betrachten und reflektieren, wie Ihr Kind Sie wohl erleben wird.

7.
Teilen Sie Ihre guten Interessen und Ihre wertvolle Lebenserfahrungen altersangemessen mit Ihrem Kind. Haben Sie den Willen und den Mut voranzugehen. Zeigen Sie Ihrem Kind auch , dass Interessen und Wünsche für ein größeres Ganzes immer wieder auch gezügelt werden müssen.

8.
Setzen Sie klar, verständlich und in ruhiger Weise Ihre Grenzen und unterstützen Sie Ihr Kind dabei, seine Grenzen zu erkennen.

9.
Übergeben Sie Ihrem Kind die Verantwortung für Lebensbereiche und einzelne Situationen, die es alleine bewältigen kann. Lassen Sie es in diesen Bereichen Entscheidungen treffen und tatsächliche Konsequenzen erfahren.

10.
Stehen Sie mit liebevollem Rat und Unterstützung bereit, vor allen Dingen wenn Dinge schief laufen. Denn genau das sind die Momente, in denen warmherzige, entschlossene und unterstützende Eltern gebraucht werden.

Auch bei guter Vorbereitung kommt es bei Entdeckungsreisen immer wieder zu Überraschungen und Schwierigkeiten, die nur schwer alleine zu bewältigen sind. Gott sei Dank müssen Sie diesen Weg ja auch nicht alleine gehen. Suchen Sie sich also rechtzeitig Begleiter, Unterstützer und gegebenenfalls auch professionelle Berater, damit Sie nicht unnötig im Unterholz des Alltags stecken bleiben.


31. August 2019

Der Polyvagal-Kreis






Mit diesem  Video möchte ich anhand des Polyvagal-Kreises erklären, wie unser Autonomes Nervensystem versucht, unser Überleben zu sichern, welche Rolle dabei das Erleben von Sicherheit und Verbundenheit spielt und wie es dazu kommen kann, dass wir traumatisiert werden. Dies alles werde ich auf der Grundlage der Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges erklären.

Das Autonome Nervensystem ist Teil des umfassenden und vielschichtigen Nervensystems des Menschen, das den ganzen Körper durchzieht.

Vereinfacht betrachtet besteht das Nervensystem zunächst einmal aus dem Gehirn. Zusammen mit dem Rückenmark bildet es das Zentrale Nervensystem. Aufgabe des Zentralen Nervensystems ist es, das Zusammenspiel aller Bereiche und Systeme im menschlichen Körper zu regulieren und in eine ausgewogene Balance zu bringen.

Darüber hinaus gehören zum Nervensystem auch all die Nervenbahnen, die sich durch den gesamten Körper ziehen. 

Dazu zählen zum einen die Hirnnerven. Sie entspringen zumeist direkt dem Hirnstamm und führen überwiegend in den Kopf- und Halsbereich. Eine wesentliche Ausnahme macht hier der Vagusnerv, der nicht nur in den Kopfbereich, sondern auch in den Brust- und Bauchraum führt und dort Herz, Lunge sowie die Verdauungsorgane bis zum Dickdarm erreicht. Außerdem gibt es noch die Rückenmarknerven, die dem Rückenmark entspringen und alle Bereiche und Organe des Körpers erreichen.

Hirnnerven und Rückenmarknerven bilden gemeinsam das Periphere Nervensystem, das mit dem Zentralen Nervensystem verbunden ist.

Gemeinsam haben das Periphere und das Zentrale Nervensystem die Aufgabe, einerseits äußere und innere Reize wahrzunehmen, diese über die Nervenbahnen weiterzuleiten und im Zentralen Nervensystem zu verarbeiten und zu speichern. Andererseits werden Impulse des Zentralen Nervensystems über die peripheren Nervenbahnen an die <Muskulatur und Organe geleitet, um Reaktionen im Körper und ins Außen zu ermöglichen.

Das Autonome Nervensystem ist ein funktionaler Teilbereich des gesamten Nervensystems. Es steuert und reguliert lebenswichtige Körperfunktionen und Körpervorgänge wie zum Beispiel den Stoffwechsel, den Blutkreislauf und den Wärmehaushalt. Dies macht es völlig autonom, ohne dass der Mensch vorsätzlich steuernd eingreifen kann. Die autonome Regulation lässt unseren Körper ständig und ganz natürlich zwischen Momenten der Ruhe und Momenten der Aktivität pendeln.

Dafür bedient sich das Autonome Nervensystem zweier Subsysteme: 
Mit Hilfe des Parasympathischen Nervensystems und seines größten und wichtigsten Nervs, dem Vagusnerv, bringt das autonome Nervensystem Ruhe in den Körper, wodurch Gesundheit, Entwicklung, Regeneration und Heilung möglich werden. Und mit Hilfe des Sympathischen Nervensystems werden die körperlichen Systeme aktiviert, wodurch Bewegung in den Körper kommt. Dieser Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität ist, so lange wir leben, ein ununterbrochener Prozess, bei dem idealer Weise ganz natürlich ein Ausgleich zwischen Ruhe und Aktivität gefunden wird.

Das Autonome Nervensystem verfolgt mit all dem, was es tut, ein grundsätzliches Ziel: Es will unser Überleben sichern, damit wir uns möglichst lange fortpflanzen und um unseren Nachwuchs kümmern können. Das Überleben lässt sich sichern, indem wir einerseits mit uns friedlich gesinnten Menschen Gemeinschaften bilden und uns andererseits bei Gefahr verteidigen.

Dafür überprüft unser Autonomes Nervensystem in jedem Moment, inwieweit die Situation, in der wir uns befinden, und die Menschen, denen wir begegnen, sicher, gefährlich oder lebensgefährlich sind. Und diese Einschätzung der aktuellen Gefahrenlage trifft es unabhängig von unserem Bewusstsein. Es bedient sich dabei aller zur Verfügung stehen aktuellen Sinnesreize aus der Umwelt und aus dem eigenen Körper sowie der im Zentralen Nervensystem gespeicherten Erfahrungen. Stephen Porges hat für diesen nichtbewussten Vorgang den Begriff der Neurozeption geprägt.

Abhängig von seiner Einschätzung bereitet das Autonome Nervensystem unseren Körper sofort und sehr schnell darauf vor, auf die Situation angemessen reagieren zu können. Insbesondere bei Gefahr ist die schnelle Reaktion überlebensnotwendig, da eine langsame Reaktion schnell zu langsam sein kann. Je nachdem wird unser Körper also vorbereitet für Handlungen, die Verbundenheit schaffen, Gefahren abwehren oder Ressourcen schonen. Dafür reguliert das Autonome Nervensystem über das parasympathische oder das sympathische Nervensystem vor allen Dingen die Atmung, den Herz-Kreislauf, den Hormonhaushalt, die Muskelspannung, die Magen-Darm-Tätigkeit, den Gesichtsausdruck, die Stimme und das Hören.

Gelangt nun unser Autonomes Nervensystem auf dem Wege der Neurozeption im Idealfall zur unbewussten Einschätzung, dass eine Situation oder Begegnung sicher ist, reguliert es alle wichtigen Bereiche des Körpers in einer Weise, dass soziale Interaktion mit anderen Menschen und Lebewesen möglich wird und ein beruhigendes und nährendes Gefühl der Verbundenheit entstehen kann. Diese Regulation geschieht über den ventralen Zweig des Vagusnervs:

  • Die Atmung beruhigt sich und ist entspannt;
  • das Herz schlägt in einem angenehmen Rhythmus, wodurch zu allen Bereichen des Körpers Signale der Ruhe gesendet werden;
  • die Muskeln sind entspannt, weil keine Aktion bevorsteht;
  • der Magen-Darm-Trakt arbeitet, um uns mit Nährstoffen zu versorgen und Abfallstoffe zu entsorgen;
  • Hormone, die soziales Verhalten begünstigen, werden ausgeschüttet;
  • die entspannten Gesichtsmuskeln insbesondere rund um die Augen ermöglichen uns einen freundlichen Gesichtsausdruck;
  • die Stimme ist melodisch und im Ton freundlich
  • und das Mittelohr wird autonom so eingestellt, dass die menschliche Stimme optimal gehört werden kann.

So schwingt unser Autonomes Nervensystem aus dem Gefühl der Sicherheit heraus in einem Bereich, in dem wir entspannten Kontakt mit anderen Menschen aufnehmen und dabei gleichzeitig Signale der Sicherheit senden können. Wir können Unterhaltungen mit dem Gefühl der Verbundenheit führen und uns dem fröhlichen Spiel und ausgelassenen Tanz zuwenden. Dabei kommt es, ohne dass die Einschätzung der Sicherheit verloren geht, automatisch auch zu einer leichten Aktivierung des Sympathischen Nervensystems. Das können wir daran merken, dass die Atmung kräftiger wird, die Herzfrequenz zunimmt und der Muskeltonus steigt.

Nimmt die Erregung zum Beispiel in Form der Aufregung weiter zu, kann der Punkt erreicht werden, wo es notwendig für uns wird, die eigenen Grenzen deutlich zu setzen und uns zu verteidigen. Das Autonome Nervensystem wechselt dabei langsam zu der Einschätzung, dass Gefahr besteht. Dies ist der wichtige Bereich der „Gesunden Aggression“: Der Mensch tritt, wenn er noch mit dem Gefühl der Sicherheit verbunden ist, klar und entschlossen für seine eigene Integrität und Sicherheit ein. Der ventrale Vagus bleibt dabei grundsätzlich aktiv, so dass die sympathische Aktivierung nicht zu groß wird, wir in der Lage bleiben, unsere Emotionen und unser Verhalten zu regulieren und dadurch unsere Aktionen nicht übergriffig und verletzend werden.

Am anderen Ende des Spektrums neurozeptiv erlebter Sicherheit sind Herz-Kreislauf, Atmung und Muskeltonus noch weiter beruhigt und die Verdauungsorgane arbeiten optimal, um uns mit Nährstoffen zu versorgen. Wir können uns dem konzentrierten Lernen zuwenden und haben die Möglichkeit, uns der Entspannung hinzugeben, wodurch geistige Entwicklung und körperliche Erholung möglich sind.

Unterstützt wird dieser Prozess durch die zusätzliche autonome Aktivierung des dorsalen Zweigs des Vagus. Aus dem Gefühl der Sicherheit und Verbundenheit mit für uns wichtigen Menschen heraus können wir mehr und mehr Immobilität tolerieren, was nicht nur eine Voraussetzung ist für entspannungsfördernde Formen des Yoga, der Tiefenentspannung, der Meditation oder der Kontemplation, sondern auch für die Bereitschaft zur Intimität, einem Zustand tiefer Vertrautheit mit der Bereitwilligkeit zu großer räumlicher Nähe und Bewegungseinschränkung. Und nicht zuletzt wird der gesunde Schlaf erst möglich, wenn aus dem Gefühl der Sicherheit heraus der dorsale Zweig des Vagus aktiviert wird. Diese nur leichte Aktivierung des dorsalen Vagus unterstützt das aktuelle Wohlbefinden, die körperliche Entwicklung und Regeneration, die Stabilisierung des Immunsystems und die allgemeine Gesunderhaltung.

Im Idealfall schwingt unser Autonomes Nervensystem irgendwo in diesem Bereich zwischen gesunder Immobilität und gesunder Aggression. Die Grundlage dafür bildet das neurozeptiv erlebte Gefühl der Sicherheit und das sich in der Interaktion über die Zeit entwickelnde und stabilisierende Gefühl der Verbundenheit. Dies ist der optimale Dynamikbereich unseres Autonomen Nervensystems, in dem Wohlbefinden, Entwicklung und Gesundheit möglich sind.


Wenn unser Autonomes Nervensystem zu der Einschätzung kommt, dass die Situation, in der wir uns befinden, oder der Mensch, dem wir begegnen, gefährlich ist, dann beginnt es sofort, den Körper über das sympathische Nervensystem für ein entsprechendes Verteidigungsverhalten wie Kampf und Flucht vorzubereiten: 

  • Die Atmung wird beschleunigt, weil nun viel Sauerstoff vor allem in den Muskeln benötigt wird;
  • die Herzfrequenz steigt, weil sauerstoffreiches Blut und im Körper gespeicherte Energie durch den Körper gepumpt werden müssen;
  • die Muskelspannung steigt, damit schnelle und kraftvolle Bewegungen möglich sind;
  • die Verdauungstätigkeit im Magen-Darm-Trakt wird vorübergehend eingestellt, weil Verdauung für das bevorstehende Verteidigungsverhalten nicht notwendig ist und nur unnötig Energie verbrauchen würde;
  • Stresshormone werden ausgeschüttet und informieren den gesamten Körper, dass Gefahr besteht;
  • Gesichts- und Nackenmuskeln werden angespannt, um die Gefahrenquelle besser fokussieren zu können;
  • die Stimme wird hart und bedrohlich oder schrill und alarmierend
  • und das Mittelohr wird autonom so eingestellt, dass vor allen Dingen tiefe Gefahrengeräusche oder hohe Alarmtöne gehört werden können.

Das Erkennen von Gefahr mobilisiert im Extremfall alle zur Verfügung stehende Energie und Kraft, um die persönliche Unversehrtheit oder auch die Unversehrtheit unserer Familie und Freunde zu schützen oder zu verteidigen.  Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gefahr tatsächlich besteht oder nur vermeintlich. Die Energieballung in uns erleben wir als Ärger, Wut oder Rage. 

In diesem Kampf/Flucht-Modus sind wir nicht länger in der Lage, angenehme und nährende zwischenmenschliche Interaktion zu gestalten und unser Auftreten lädt auch unser Gegenüber nicht mehr dazu ein. Vielmehr wirken wir nun auf Andere abweisend und beängstigend, was mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass unser eventuell eigentlich friedfertiges Gegenüber ebenfalls in den Verteidigungs-Modus des sympathischen Nervensystems kommt.

Eine Form des Kampfes, die oftmals nicht als eine solche erkannt wird, ist die Unterwürfigkeit, bei der einem die Angst im Nacken sitzt und es darum geht, seine Haut durch offensives Zurschaustellen der eigenen Friedfertigkeit zu retten.
Je mehr Überlebensenergie unser Körper generiert, desto aggressiver wird der Kampf: Die Drohung ist dabei die ultimative Ankündigung von Gewaltbereitschaft. Ein zunächst noch mit Worten ausgeführter Streit kann sehr schnell zu lautstarkem Geschrei heranwachsen, bei dem niemand mehr zuhört. Schnell kann der Streit handgreiflich werden: Es wird geschupst und gezerrt und plötzlich ist die Schlägerei entfacht, bei der die Wut nur noch blind agiert und die Vernichtung der Gefahrenquelle erreichen will. 

Bei alldem neigt unser Autonomes Nervensystem nicht dazu, verhältnismäßig und vernünftig zu sein. Es wägt seine Reaktion nicht lange ab, wenn es ums Überleben geht.

Gelingt es uns, die Gefahr siegreich abzuwenden oder uns ihr erfolgreich zu entziehen, dann kann sich auf der Basis neugewonnener Sicherheit unser Autonomes Nervensystem wieder einschwingen im ventral-vagalen Dynamikbereich, der soziale Interaktion und Entspannung möglich macht. Das Gleiche gilt, wenn wir die Gefahr durch eine Neubewertung der Situation auflösen können oder wenn wir einen emphatischen Menschen an unserer Seite haben, der uns koregulierend unterstützt.

Bleibt die Gefahr aber für uns bestehen und stellt sich kein wiedergewonnenes Erleben von Sicherheit ein, schaffen wir es nicht, unsere Emotionen und unser Verhalten zu regulieren, und haben niemanden, der uns dabei in Form von Koregulation unterstützt, dann finden wir nicht den Weg zurück zu sozialer Interaktion und Entspannung. Unser Autonomes Nervensystem verharrt im Zustand hoher sympathischer Erregung. Dies gilt auch, wenn die Gefahr immer wieder und in dichter Folge auftritt: Unser Sympathisches Nervensystem bleibt aktiviert, um jederzeit der bestehenden oder erwarteten Gefahr mit aller Kraft zu begegnen.

Wenn unser Autonomes Nervensystem dauerhaft aktiviert bleibt und sich nur noch in einem eingeschränkten hochaktivierten Dynamikbereich bewegt, dann entwickeln wir anhaltenden körperlichen Stress mit allen daraus resultierenden Nachteilen: Wir finden kaum noch oder keine Möglichkeiten mehr zu körperlicher Entspannung und Regeneration und wir entwickeln mit zunehmender Wahrscheinlichkeit vielfältige Erkrankungen auf körperlicher und auch psychischer Ebene.

Von einem Trauma sprechen wir in diesem Zusammenhang dann, wenn unser Autonomes Nervensystem im Hier und Jetzt immer wieder Gefahren entdeckt, die bei genauerem Hinsehen gar nicht bestehen. Irgendetwas erinnert uns jedoch, ohne dass wir uns dessen bewusst werden, an etwas, das uns zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort das Gefühl von Sicherheit genommen hat. Wir reagieren reflexhaft auf einen speziellen Ton der Stimme, auf Wörter, Gesten und Körperhaltungen, auf Handlungen und Verhaltensweisen, auf Berührungen, Nähe oder räumliche Situationen, auf Gerüche oder Farben, auf Bilder, unbewusste Gedanken und Vorstellungen. Wir reagieren auf etwas, was wir und unser Autonomes Nervensystem im Dort und Damals tatsächlich als gefährlich erlebt haben und das wir damals nicht erfolgreich abwehren konnten. Wir reagieren mit einer Verteidigungsstrategie, die im Dort und Damals unser Überleben gerettet hat und gleichzeitig nicht erfolgreich zu Ende gebracht wurde. Wir haben damals kein Gefühl der Sicherheit zurückgewinnen können und stecken in hoher Aktivierung fest. Wir greifen auf eine Verteidigungsstrategie zurück, auch wenn sie für das Hier und Jetzt eigentlich nicht mehr passend ist.

Kommt unser Autonomes Nervensystem zu der Einschätzung, dass bei bestehender Gefahr weder der eventuell bereits begonnene Kampf noch die gegebenenfalls schon eingeleitete Flucht Aussicht auf Erfolg haben, dass die Gefahr vielmehr überwältigend und absolut lebensgefährlich ist, dann aktiviert es den dorsalen Vagus: Alle wesentlichen Systeme unseres Körpers werden im Zustand der Angst und bei hohem Stresshormonspiegel heruntergefahren:

  • Die Atmung wird flach;
  • die Herzfrequenz sinkt auf ein Minimum;
  • die Muskelspannung ist äußert gering und
  • die Magen-Darm-Tätigkeit kommt nahezu zum Erliegen.

In diesem physiologischen Zustand, der das Gesamtsystem auch vor einer drohenden sympathischen Überlastung schützen soll, erwecken wir den Eindruck der Leblosigkeit und werden damit für einen potentiellen Angreifer uninteressant. Unser Schmerzempfinden nimmt ab und alle nur möglichen Ressourcen werden für eine Zeit „danach“ aufgespart. Das Ergebnis ist eine mehr oder weniger umfassenden Immobilität im Angesicht der Bedrohung.

Eine Form der manchmal auch nur leichten Immobilität ist die Traurigkeit, bei der der Mensch nach einem Verlust nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll und gleichzeitig Wut und Ärger nicht zulassen kann. Kommt ein angsteinflößendes Ereignis gewaltig und überraschend, dann bleibt nicht wirklich Zeit für eine aktive Reaktion; der Schock, die sofortige Immobilität, ist physiologisch dann die einzige Möglichkeit der Verteidigung für ein überfordertes System. Im Vergleich zur Flucht, mit der man sich aktiv aus der Gefahrenzone bringen will, ist der Rückzug eine Flucht ins eigene Innere, bei der man jedoch in der Gefahrenzone bleibt. Zu diesem Abtauchen kommt bei der Erstarrung oder dem Shutdown noch aufgrund der sehr niedrigen Muskelspannung die motorische Immobilität hinzu. Und bei der Ohnmacht kollabiert dann tatsächlich kurzfristig das Herz-Kreislauf-System.

Ist der Mensch erst einmal in den Zustand der Immobilität geraten, wird es sehr schwierig, zurück in die Mobilität zu kommen, weil das Autonome Nervensystem sich in eine Art Sackgasse manövriert hat. Dies liegt vor allen daran, dass sich der Mensch im Zustand der Immobilität weiterhin in der Gefahrenzone befindet, ohne dass er aktiv irgendetwas tun kann, damit die Gefahr sich auflöst. Kommt der Mensch also aus der Immobilität zurück in die Mobilität, erlebt er sofort wieder die Gefährlichkeit Situation und spürt Wut und Rage. Und wenn sich an der Situation nicht wirklich etwas geändert hat, weil entweder die Gefahr sich aufgelöst hat oder jemand uns koregulierend dabei unterstützt, uns aus der Gefahrenzone in ein Erleben von Sicherheit zu begeben, taucht auch schnell wieder das Gefühl der Überwältigung auf, das den Menschen erneut in die Immobilität befördert. Auf diese Weise agiert das Autonome Nervensystem anhaltend in einem sehr eingeschränkten dysregulierten Dynamikbereich zwischen Wut und Ohnmacht.


Befindet sich der Mensch zu oft in dem nur für absolute Notfälle vorgesehenen Immobilitätsmodus oder in dem beschriebenen dysregulierten Dynamikbereich, dann sprechen wir von einem Trauma, unter dem nicht nur die Lebenszufriedenheit und Lebensfreude leidet, sondern tatsächlich auch die körperliche Gesundheit: Fettleibigkeit, Diabetes, Herzerkrankungen, Atemproblematiken, Schmerzerkrankungen und Krebs treten mit einer mehrfach höheren Wahrscheinlichkeit auf. Und auch psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände und die damit verbundenen Drogenproblematiken sind deutlich wahrscheinlicher. Grundsätzlich beeinträchtigt werden dadurch auch unsere höheren kognitiven Funktionen, wie das Treffen von Entscheidungen, das Lösen von Problemen und das Regulieren von Emotionen.


Ein Weg aus der Immobilität zurück in den Bereich der Entspannung und der sozialen Interaktion führt über die Immobilität ohne Angst. Dieser Weg wird möglich, wenn die Bedrohung und der von ihr ausgehende Druck aktuell sich auflöst und langsam, manchmal nur sehr langsam ein Gefühl der Sicherheit in der Immobilität entstehen kann. Hält dieser Prozess lang genug an, kann es wieder zu Momenten der Entspannung kommen und die Aufnahme sozialer Interaktion an anderer Stelle wird möglich. Damit hat sich aber die bedrohliche Grundsituation, die in die Immobilität mit Angst geführt hat, nicht unbedingt aufgelöst. Lebt der Mensch tatsächlich weiterhin in widrigen Lebensumständen mit zum Beispiel Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung oder Armut oder wird seine widrige Lebenserfahrung aus dem Dort und Damals immer wieder getriggert, droht er immer wieder in die Immobilität mit Angst zu geraten. Erst wenn diese aktuellen widrigen Lebensumstände aufgelöst oder die widrigen Lebenserfahrungen neuverhandelt werden, kann sich ein zunehmendes und anhaltendes Gefühl der Sicherheit einstellen. Und erst dann ist die Rückkehr des Autonomen Nervensystems in seinen optimalen Dynamikbereich möglich.

Unser Autonomes Nervensystem arbeitet Tag und Nacht, um unser Überleben zu sichern. Dass es dies sehr effizient und erfolgreich macht, ist offensichtlich, denn schließlich leben wir ja noch. Wenn wir jedoch in unserem Leben mit zu vielen widrigen Lebenserfahrungen konfrontiert waren, die uns in Angst und Schrecken versetzten, und gleichzeitig niemand da war, der uns wieder in das Erleben von Sicherheit zurückbegleitet hat, dann kann unser Autonomes Nervensystem sehr grundsätzlich aus dem Rhythmus von Ruhe und Aktivität gekommen sein.

Die gute Nachricht ist, dass es jederzeit möglich ist, diesen gesunden Rhythmus wiederzufinden. Wir können diese Heilung jedoch nicht alleine schaffen; wir brauchen dafür mindestens einen einfühlsamen Mitmenschen, der uns auf diesem Weg begleitet. Das muss nicht unbedingt ein Therapeut sein, es kann auch ein Freund oder ein Mensch sein, dem wir vertrauen. Dabei entsteht Heilung, wenn wir auf dem Weg der Koregulation wieder und wieder in ein Erleben von Sicherheit und Verbundenheit im Hier und Jetzt kommen.

Am Ende ist es nicht notwendig, dass wir uns immer und überall sicher fühlen, denn ein gewisses Maß an Unsicherheit und Gefahr gehört ganz einfach zum Leben dazu. Wir brauchen auch nicht zu jeder Zeit Koregulation. Was wir jedoch brauchen und was wir unseren Kindern als das größte Geschenk mitgeben sollten, ist ein verkörpertes Wissen, dass es für uns grundsätzlich einen Zugang zu sicheren Lebenswelten und sicheren sozialen Beziehungen gibt.


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Stephen Porges: Die Polyvagal-Theorie, 2010
           Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit, 2017

Kathy Kain, Stephan Terrell: Nurturing Resilience, 2018

Alaine Duncan, Kathy Kain: The Tao of Trauma, 2019




Was bei akuter Angst, Verzweiflung oder Panik hilft

Wenn Aufregung, Wut, Angst, Verzweiflung oder Panik Sie oder einen Menschen in Ihrem Umfeld erfasst, können die folgenden Übungen helfen: 1....