Wollen Sie wirklich ein gehorsames Kind?
Irgendwie hat ja die Vorstellung vom gehorsamen Kind etwas Verlockendes; das Kind hört, was ich sage, und befolgt dies:
- „Putz dir jetzt die Zähne und geh ins Bett.“ Und das Kind putzt sich die Zähne und geht ins Bett.
- „Bringe bitte den Müll raus zur Mülltonne.“ Und das Kind bringt den Müll raus.
- „Mache deine Hausaufgaben, bevor du spielen gehst.“ Und das Kind macht zuerst seine Hausaufgaben.
- „Sei bitte zum Abendessen pünktlich wieder zurück aus dem Freibad.“ Und das Kind setzt sich pünktlich an den gedeckten Familientisch.
- „Zank dich nicht immer mit deiner kleinen Schwester.“ Und die Kinder spielen freundlich miteinander.
- „Pass in der Schule besser auf.“ Und das Kind passt besser auf.
Das klingt irgendwie gut, oder? Ein gehorsames Kind scheint das Familienleben doch sehr viel einfacher zu machen. Ich sage etwas und schon passiert das auch. Wunderbar! Nur - vielleicht leider, vielleicht Gott sei Dank - ist das nicht immer so. Und dennoch gibt es sie, die gehorsamen Kinder.
Wann und warum ist ein Kind gehorsam?
Auf diese interessante Frage gibt es sicherlich eine Vielzahl von Antworten. Vereinfachend will ich hier drei Antworten geben und ein Versuch der Auflösung:
1. Antwort: Das Kind ist gehorsam, weil es weiß, dass die Eltern es sonst strafen.
Dann ist das Kind aber nicht wirklich gehorsam, sondern es ist ängstlich; es befolgt, was ich sage, weil es weiß, dass es ansonsten bestraft wird. Und es befolgt die Anweisung, die manchmal als Frage, machmal als Bitte verklausuliert ist, solange das Gefühl der Angst besteht. Aber was wird eines Tages passieren, wenn das Kind nicht mehr das Gefühl hat, Angst haben zu müssen.
- „Bring bitte den Müll raus zur Mülltonne.“ - „Und wenn nicht? Willst du mich dann wieder sofort ins Bett schicken? Vergiss es!“
Gehorsam funktioniert nicht mehr, weil das dahinterstehende Druck- und Strafsystem nicht mehr funktioniert. Wie lange kann ich meinen Druck aufrecht erhalten, damit mein Kind weiter gehorsam bleibt? Wie viel Kraft will ich da hineinstecken?
2. Antwort: Das Kind ist gehorsam, nur so lange die Eltern zugegen sind.
Dann ist das Kind aber nicht gehorsam, sondern unaufrichtig. Sobald die Eltern nicht mehr anwesend sind, macht das Kind nicht mehr das, dem es vordergründig zugestimmt hat, sondern, was es will.
- „Putz dir jetzt bitte die Zähne und geh ins Bett.“ - „Ja, mach ich.“
Aber im Badezimmer läuft nur das Wasser, während das Kind im Comic liest; es legt sich anschließend ins Bett, doch sobald die Eltern ins Kino gegangen sind, schaltet es den Computer ein.
Die Aufforderung der Eltern zu Gehorsam lässt das Kind unehrlich werden. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind stimmt dann nicht mehr. Was habe ich dann von dem scheinbaren Gehorsam?
3. Antwort: Das Kind ist gehorsam, weil es aus Erfahrung weiß, dass die Anweisungen oder Aufforderungen der Eltern in der Regel sinnvoll sind.
Dann ist das Kind aber gar nicht nur einfach gehorsam, sondern es ist bereit, aktiv in den Willen der Eltern einzuwilligen, weil die Eltern sich für das Kind als Orientierung und Sicherheit gebende Instanzen bewährt haben. Sie sind in den Augen des Kindes ein sicherer Hafen. Kinder erleben sich mit solchen Eltern (im Sinne der von John Bowlby begründeten Bindungstheorie) als sicher gebunden. Solche Eltern werden ihrer Verantwortung für das Kind gerecht, besitzen daher Autorität und brauchen sich nicht autoritär zu gebärden.
Was aber, wenn das älter werdende Kind selbstbewusster und entscheidungsfreudiger wird, wenn es seine Vorstellungen und Möglichkeiten ausprobieren möchte? Was, wenn es etwas anderes als seine Eltern angemessen und sinnvoll findet?
- "Mach deine Hausaufgaben, bevor du im Garten spielst." - "Meine Hausaufgaben mache ich später. Ich brauche erst etwas Bewegung. Ich habe nämlich den ganzen Vormittag in der Schule nur gesessen.“
Jetzt wäre Gehorsam aus der Sicht des Kindes nicht richtig. Gehorsam wäre unvernünftig für das Kind. Will ich in solch einer Situation trotzdem ein gehorsames Kind, ein Kind, das trotzdem aktiv in mein Wollen einwilligt?
Ja, gerne!
Und gleichzeitig kann ich bereit sein, dem Kinder Verantwortung zu übergeben.
Auflösung:
In der gleichwertigen Gemeinschaft, ein von Jesper Juul formuliertes Konzept für das Miteinander in Familien und partnerschaftlichen Beziehungen (lesen Sie dazu meinen Post Gleichwürdigkeit in der Familie), lässt sich diese Situation gut auflösen. Zwei Punkte sind dabei wichtig:
- Ich nehme das Kind mit seinen Bedürfnissen und Werten wahr; ich sehe es, ich höre es und ich nehme es ernst.
„Das ist also deine Idee?!“ - „Ja!“ - „Okay …“
Auf diese Weise, erfährt es Anerkennung, die sein Selbstgefühl stärkt und die Basis für persönliche Verantwortung ist. Wer persönliche Verantwortung übernehmen kann, braucht nicht mehr gehorsam zu sein. Persönliche Verantwortung ist das Ergebnis eines Lern- und Erfahrungsprozesses, der nicht frühzeitig genug Schritt für Schritt durch Erwachsene ermöglicht und begleitet werden muss. - Das Kind erfährt Respekt für seine Werte und Ziele, die es äußern und für die es eintreten kann, ohne verhöhnt, diffamiert, entwürdigt oder beschuldigt zu werden. Indem ihm Raum zur Verwirklichung gewährt wird, erlebt es seine eigene Integrität. Aus dieser Zufriedenheit heraus, kann es ein Gefühl dafür entwickeln, wie wichtig es ist, Respekt für die Integrität der Mitmenschen zu entwickeln. Der junge Mensch entwickelt eine Bereitschaft, aus Respekt vor dem anderen in das Wollen anderer aktiv einzuwilligen, obwohl er andere Vorstellungen hat. Er erkennt, dass Gemeinschaft nur möglich ist, wenn unterschiedliche Interessen miteinander in ein Gleichgewicht gebracht werden. Gleichzeitig entwickelt der Jugendliche ein Gespür dafür, wo er seine Einwilligung nicht geben kann, weil seine persönlichen Grenzen ansonsten verletzt werden würden.
Das alles können Kinder, die aus Angst oder nur vorgeblich gehorsam sind, nicht lernen. Diese Kinder lernen, dass Androhungen von Sanktionen und Gewalt ein erfolgreicher Weg sind. Sie entwickeln ein fragiles Selbstgefühl und werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen und Respekt für den anderen zu entwickeln. Als Erwachsene werden sie versuchen, ihren Willen durch Einschüchterung und Androhung von Gewalt durchzusetzen oder sich durchzumogeln, in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden.
Unsere Gesellschaft braucht also keine gehorsamen Kinder, sondern vielmehr Menschen, die wissen, was sie wollen und wofür sie einstehen, und aus Verantwortung für sich und die anderen entscheiden, ob sie einwilligen in das Wollen des anderen. Das ist ein Lernprozess, der in der frühen Kindheit beginnt, sich durch das Jugendalter zieht und erst mit dem Erwachsensein abgeschlossen ist.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen