27. Juni 2018

Sei doch mal ein bisschen empathisch!


Empathie ist etwas, zu dem in sozialen Prozessen gerne aufgefordert wird, häufig verbunden mit dem Vorwurf, dass es daran fehlt. Aber was bedeutet es denn empathisch zu sein? Mit wem kann ich empathisch sein? Und wie kann ich Empathie entwickeln?

Empathie für den Anderen

Empathisch mit dem Anderen zu sein, bedeutet, dem Mitmenschen achtsam und mitfühlend zu begegnen, insbesondere dann, wenn es ihm nicht gut geht. Man spricht hier von affektiver Empathie
Ich erkenne, wie es dem anderen Menschen geht. 
Ich gebe dem Raum und erkenne an, dass es dem Anderen tatsächlich so geht. 
Ich fühle mit, wenn er leidet, Angst hat oder traurig ist, wenn er gestresst oder überfordert ist. Ich zeige Mitleid. Dabei muss ich mir nicht zwangsläufig das Gefühl des Anderen zu eigen zu machen. 
Ich kann auch empathisch darauf reagieren, wenn der Andere Glück hat, erfolgreich ist, sich freut oder wenn er sich gut fühlt. Das nennt man dann Mitfreude. In der Regel erscheint es weniger notwendig, Mitfreude zu zeigen; scheinbar wird sie auch weniger eingefordert. Mitfreude zu zeigen ist jedoch gar nicht so leicht, wie es klingt, weil schnell auch Neid entstehen kann.

Mit Empathie ist darüber hinaus auch die Fähigkeit und Bereitschaft gemeint, die Perspektive des anderen auf Dinge, Fragen und das Leben insgesamt einzunehmen. Hier spricht man von kognitiver Empathie:
Ich bemühe mich, das Wahrnehmen und Denken und die daraus resultierenden Handlungen meines Gegenübers „wie er selbst“ zu verstehen. 
Ich will verstehen, wie der andere tickt, was seine Werte sind, aus welcher Perspektive er auf das Leben schaut, wonach er strebt und was für ihn Glück und Erfüllung bedeutet.
  • "Ich fange an zu verstehen, dass Familie für dich sehr wichtig ist, wichtiger als unsere Freundschaft, und du deshalb im Moment weniger Zeit für mich hast als früher."
  • "Ich erkenne, dass Reichtum und Besitz für dich Glück bedeuten und dass du deshalb so viel über Geld und Karriere redest.“
Emphatische Menschen, können den Anderen, seine Handlungsmotive und den Sinn dahinter besser verstehen und auf dieser Grundlage angemessener mit ihm in Beziehung treten. Meine Empathie ist also nicht nur gut für den Mitmenschen, indem es ihn in seinem momentanen Sosein anerkennt, sondern meine Empathie ist auch gut für mich, weil es mir ermöglicht, Begegnung mit dem Mitmenschen besser zu verstehen und angemessener zu handeln.

Empathie für mich

Häufig wird Empathie einseitig verstanden als Mitgefühl für den Mitmenschen, als das Bemühen, den Anderen zu verstehen. Doch Empathie ist auch eine Haltung, die ich mir selber gegenüber einnehmen sollte.

Ich bin empathisch für meine eigenen Gefühle und Emotionen; ich begegne meinem Schmerz, meiner Wut und meinem Kummer, aber auch meiner Freude und Ausgelassenheit achtsam und mit Mitgefühl. Ich gebe mir selber Anerkennung.
  • Ich merke, wie Traurigkeit in mir aufsteigst; ich spüre das und nehme es an. Ich versuche die Traurigkeit mit großer Ruhe zu betrachten. Ich laufe nicht weg vor ihr und ich will sie nicht verjagen.
  • Ich bemerke meine Freude über das, was passiert, und genieße es, wie sie meinen ganzen Körper vibrieren lässt.
Empathie mit mir zu haben, bedeutet aber auch, Klarheit zu gewinnen über meine eigenen Interessen, Werte, Haltungen und Sichtweisen auf die Welt, die alle miteinander mein aktuelles Denken, Sprechen und Handeln stark beeinflussen. Auf diese Weise komme ich mit meinem Selbst besser in Kontakt und mein Handeln kann mir verständlicher werden. 
  • Ich vermeide möglichst jeden Streit, weil ich aus meiner Herkunftsfamilie keine Streiterfahrung mitbringe. Ich gebe lieber klein bei, ordne mich unter und verbiege mich.
  • Ich brauche ganz viel Anerkennung, um glücklich sein zu können. Deshalb übernehme ich bei der Arbeit auch die ungeliebten Arbeiten und gehe damit über mein Limit.
Empathie für mich selbst und für andere sind wie zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig erfordern und ermöglichen: Wenn ich Empathie, also Mitgefühl und Verstehen für mich selber habe, kann sich die Ruhe und Klarheit in mir entwickeln, aus der heraus ich mich empathisch dem anderen Menschen zuwenden kann. Wenn ich in empathischem Kontakt mit mir selber bin, kann ich in mitfühlenden und verstehenden Kontakt mit anderen Menschen treten. Wenn ich mich liebe, kann ich auch andere Menschen bedingungslos lieben. Und wenn ich den Kontakt zu mir verliere, kann ich nicht mehr wirklich empathisch sein, weil meine Basis nicht stabil ist und mein Balance verloren geht.

Wie kann ich mein empathisches Potential entwickeln?

Am besten beginne ich, mein empathisches Potential in Bezug auf mich selbst zu entwicklen:
  • Ich übe, meinen Körper mit all seinen Gliedern, dem Herzen und den Organen zu spüren und als ein Ganzes zu erfahren. Ich bin wach mit allen Sinnen, offen und unvoreingenommen für alle körperlichen Sinneseindrücke.
  • Ich übe, meine Emotionen und Gefühle wahrzunehmen und achtsam anzunehmen. Ich verurteile nichts und lasse zu, was da ist, ohne es zu forcieren.
  • Ich übe, meinen Geist mit all seinen Gedanken, Ideen, Erinnerungen und Plänen zu betrachten und zur Ruhe kommen zu lassen. 
  • Ich übe, meinen Körper, meine Emotionen und meinen Geist miteinander zu verbinden.
Meditation und meditative Übungen können dafür einen Rahmen geben. Manchmal braucht es dafür die Unterstützung einer Gruppe oder eines Lehrers. In der achtsamen Meditation kann ich mich mit meinen vielfältigen Facetten besser kennen lernen und mich mir empathisch zuwenden: Das bin ich und das ist für den Moment gut so.

Eltern können dies gemeinsam mit ihren Kindern üben, indem sie immer wieder gemeinsam die Aufmerksam auf den Köper, die Emotionen und den Geist lenken. Mit Neugier und Achtsamkeit, können sie gemeinsam dem, was ist, nachspüren und das, was ist, zulassen, ohne es zu bewerten.

In Bezug auf andere Menschen kann ich mein empathisches Potential entwickeln, indem ich auf der sicheren Basis meines empathisch getragenen Selbstgefühls mit offenen Sinnen und klarem Geist Menschen begegne. Ich bin neugierig auf den Anderen, den Fremden. Ich höre ihnen achtsam zu, ohne zu meinen, alles schon zu wissen. Ich stelle meine Vorurteile in Frage und begebe mich auf eine Entdeckungstour: Wer ist der andere wirklich? Was sind seine Werte und Interessen? Was beschäftigt ihn? Welche Gefühle schwingen in ihm? Welche Impulse drängen in ihm? Was erwartet er von mir und vom Leben?

Die Entwicklung von Empathie kann nur Schritt für Schritt gelingen. Empathie ist ein Weg, den ich auf der Suche nach mir und dem Anderen beschreiten kann. Ich kann mich für diesen Weg entscheiden und er beginnt mit einem ersten Schritt.

Und Empathie ist nicht die Lösung eines Konflikts, sondern nur ein wichtiger, notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer Lösung. Die Lösung beginnt mir dem tiefen gegenseitigen empathisch Verstehen des Anderen und erwächst aus der gemeinsamen Suche nach Gemeinschaft im Angesicht  widerstrebender Interessen, Werte und Haltungen.

„Wenn jeder alles von dem Anderen wüsste, es würde jeder gern und leicht verzeihen, es gäbe keinen Stolz mehr, keinen Hochmut.“ 
Hafis 
(persischer Dichter des 14. Jahrhunderts)

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