8. Oktober 2019

Warum immer wieder diese Wut?



Wut ist eine wichtige Emotion, die immer dann auftaucht, wenn irgendetwas z.B. für ein Kind richtig gefährlich oder bedrohlich erscheint. Dabei ist es egal, ob dann Erwachsene denken: „Aber da ist doch gar nichts.“

Wut mobilisiert alle zur Verfügung stehende Kraft und Energie, um die persönliche Unversehrtheit zu schützen oder zu verteidigen. Dabei neigt die Wut dazu, unverhältnismäßig zu sein; Wut wägt nicht ab; losgelassene Wut ist blind.
Die Einschätzung, ob etwas gefährlich ist oder nicht, ist keine vernünftige Entscheidung, sondern eine blitzschnelle emotionale Reaktion unseres autonomen Nervensystems. Dabei werden alle bisher gemachten und als bedrohlich empfundenen Lebenserfahrungen unbewusst mitberücksichtigen: Wann und wie oft bin ich schon in beängstigender Weise zu kurz gekommen? Wo musste ich kämpfen oder mich widersetzen? Wie gut konnte ich mich mit meiner Wut verteidigen? Wie erfolgreich fühlt sich diese Energie der Wut an?
Je öfter das Kind sich mit seiner Wut erfolgreich fühlt, desto häufiger wird Wut als autonome Strategie zum Einsatz kommen. Denn was zum Erfolg führt, wird zukünftig verstärkt genutzt.
In solchen schnellen autonomen Entscheidungsprozessen kann es auch leicht zu Fehleinschätzungen von Situationen kommen. Eigentlich harmlose Ereignisse im Hier & Jetzt erinnern an gefährliche Situationen aus dem Dort & Damals und werden vorsichtshalber mit Wut, der erfolgreichen Verteidigungsstrategie, beantwortet.
Weil Wut eine so mächtige Energie ist, müssen Kinder lernen, mit ihrer Wut vernünftig umzugehen, damit kein unnötiger Schaden entsteht. Und dafür brauchen sie Erwachsene, die sie effektiv in ihrer Selbstregulation unterstützen.
Umgehen mit Wut
Für einen wirklich hilfreichen Umgang mit Wut ist es absolut wichtig zu verstehen, dass kein Kind sich bewusst dafür entscheidet, wütend zu werden. Ein Kind wird wütend, wenn sein autonomes Nervensystem zu der Einschätzung gelangt:
„Achtung! Es besteht eine gefährlich Bedrohungssituation, der entschieden und unmissverständlich entgegengetreten werden muss.“
In diesem Verstehen liegt dann auch ein erster Schritt zu einer Lösung.
Das Nervensystem muss beruhigt werden; es muss zu einer neuen Einschätzung kommen: Die Situation ist gar nicht gefährlich, sondern nur frustrierend. Oder: Jetzt ist die Situation sicher.
Wie kann das gehen?
Bei einem Wutanfall rast der Herzschlag, überschlägt sich die Atmung und sind die Muskeln an vielen Stellen des Körpers übermäßig angespannt. Diesem stark aktivierten Körper darf nicht noch mehr Energie durch Ungeduld, Schuldzuweisungen, grobes Anfassen und Herumschieben oder viel Reden und Anschreien zugeführt werden. Die starke Energie muss vielmehr langsam, sehr langsam aus dem Körper herausgeleitet werden. Dabei können Erwachsene sich vorstellen, wie ein Schwamm die viele Energie aufzusaugen und an anderer Stelle zu entsorgen. Das Entsorgen der aufgesogen Energie ist dabei sehr wichtig, damit Sie als Schwamm weiterhin gut funktioniert.
Mit folgenden acht Schritten können Sie sich und das Kind durch einen Wutanfall leiten:

1. Nehmen Sie die Wut des Kindes als momentan gegeben an. Sagen Sie sich: Im Moment ist das so! Und versuchen Sie, so ruhig wie möglich zu bleiben: Ich sehe deine Wut.

2. Lassen Sie dem Kind Zeit, seine Wut konkret im Körper spüren: Wo in deinem Körper spürst du die Wut? In den Fäusten? Im Kiefer? In den Beinen? Im Bauch? Wie fühlt sich das an?

3. Geben Sie der Energie der Wut Raum. Zeigen Sie dem Kind gesunde Wege, die Energie zu spüren - aber reguliert und langsam! Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten:

- Lassen Sie sich durch (kontrolliertes) Drücken und Pressen mit Händen, Füßen oder auch dem ganzen Körper zeigen, wie stark die Wut ist.

- Spielen Sie gemeinsam große starke Tiere: Stampfen Sie wie ein Elefant, brüllen Sie wie ein Löwe, fauchen Sie wie ein Jaguar, trommeln Sie sich auf die Brust wie ein Gorilla. Nehmen Sie das ganze nicht zu ernst, sondern suchen Sie den Spaß und das Lachen dabei.

- Wechseln Sie ab zwischen Anspannung und Entspannung: Spannen Sie die Muskeln an, bis es fast nicht mehr geht, und lassen dann los. Atmen Sie kräftig ein und dann langsam und viel länger aus.

- Probieren Sie Kinder-Yogaübungen aus , die das Kanalisieren der Energie unterstützen.

4. Unterbrechen Sie auf jeden Fall ein Ausagieren der Wut. Sagen Sie, was unvernünftige Handlungen sind, und zeigen Sie Ihre Grenzen. Leiten Sie ruhig und liebevoll auf den gesunden Weg, die Energie zu spüren, zurück.

5. Bleiben Sie präsent. Verbinden Sie sich mit dem Kind. Zeigen Sie, dass Sie für das Kind da sind. Es sollte spüren, dass Sie nicht sein Feind sind. Fördern Sie ein gemeinsames Gefühl der Zufriedenheit und des Glücklichseins.

Je mehr Ruhe wieder entsteht, um so mehr können Sie die gemeinsam altersangemessene vernünftige Überlegungen anstellen und die Situation besprechen. Manchmal ist ein Besprechen aber auch gar nicht notwendig. Prinzipiell ist das aber sinnvoll.

6. Sie können dem Kind erklären, dass Wut eine Verteidigungsstrategie ist, die das Kontrollzentrum (die Vernunft) ausschaltet, und das es wichtig ist, dieses Kontrollzentrum durch langsames Spüren und Atmen wieder einzuschalten.

7. Abschließend können Sie dann gegebenenfalls noch die auslösende Situation gemeinsam betrachten und möglicher Weise auftauchende Gefühle von Scham auflösen.

8. Freuen Sie sich, dass Sie es geschafft haben, ein Kind mit seiner Wut zu koregulieren!

Wenn Erwachsene selbst gestresst sind, Schwierigkeiten mit eigener Wut haben und wenig Zeit im Alltag für Kinder gegeben ist, dann bleibt in der Regel auch wenig Zeit und Energie für diese Form des Umgangs mit Wut. Nichtsdestotrotz ist es notwendig, dem Kind mit seiner Wut zu helfen, anstatt es allein zu lassen, auszugrenzen oder zu verurteilen. Nur dann wird sich etwas ändern.

6. Oktober 2019

Kinder mit starkem Willen



Insbesondere Kinder mit einem starken Willen brauchen vor allen Dingen eins: starke Erwachsene. Sie brauchen Eltern, die mit Neugier, Freude und Freundlichkeit, mit Klarheit und Ruhe sowie mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit immer wieder den Weg suchen, auf dem die Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte ihrer Kinder und ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte in eine Balance kommen.
Diesen Weg zu finden, ist keine einfache Aufgabe, die einmal erledigt ist, sondern die sich fortwährend neu stellt, ständig verändert und immer eine Aufgabe bleibt.
Denn wenn in einer Beziehung der Mensch - egal ob Kind oder Erwachsener - hinsichtlich seiner Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte immer wieder zu kurz kommt, erwachen Ärger, Wut, Kummer, Verzweiflung oder Resignation. Diese emotionalen Zustände, die natürlich nicht auf entspannte soziale Interaktion abzielen, sondern auf die Verteidigung der eigenen körperlichen Unversehrtheit („Bleib mir bloß vom Leib!“) und psychischen Sicherheit („Ich mach, was ich will!“) führen dann zu all dem schwierigen Verhalten, das das Miteinander in der Familie so belastet.

Wenn Sie also ein Kind mit starkem Willen haben, ein Kind, das nicht einfach das tut, was Sie wollen, sondern sehr massiv - und in Ihren Augen vielleicht auf unangemessene Weise - betont, was es selber will, dann sollten Sie zunächst einmal bedenken, dass es dies nicht tut, um Ihnen das Leben schwer zu machen, sondern um sich ein Gefühl der Sicherheit zu verschaffen, indem es nicht einfach folgt, sondern sich für sich entscheidet. Und dann sollten Sie in aller Ruhe einige Dinge bedenken, bevor Sie irgendetwas Unüberlegtes tun.

Erster Schritt: Wer bin ich?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass Sie sich als Elternteil Klarheit über sich selbst verschaffen: Wie gut kenne ich mich, und wie wichtig und ernst nehme ich mich an welcher Stelle? Je klarer Sie sind, desto standfester können Sie handeln. Denn auch das, was sie nicht klar sehen, wirkt sich im Untergrund Ihres Bewusstseins auf Ihr Sein und Ihr Handeln aus.
Darum: Was sind meine Bedürfnisse (z.B. Verbundenheit, mehr Zeit für mich, mehr Schlaf), meine Interessen (z. B. Ordnung, mal wieder ins Kino oder Museum gehen), meine Ziele und Werte (z. B. empathisches Miteinander, Respekt, nachhaltiges Konsumieren)? Welche kann ich momentan für mich befriedigen oder erreichen? Wo muss ich - wem zuliebe? - meine Interessen zügeln oder meine Ziele relativieren? Und an welchen Punkten bin ich dazu auch wirklich bereit? An welchen Stellen bin ich unzufrieden?
Wie gehe ich mit Unzufriedenheit, Frustration und den daraus resultierenden schwierigen Gefühlen um? Wie gut kann ich mich regulieren und entspannen? Was tue ich, um auch in schwierigen Situationen ein liebevolles Herz und einen klaren Kopf zu behalten?
Diese Fragen werden sich nicht alle auf einmal und ein für alle Mal klären lassen; das Finden der Antworten wird ein Prozess sein.

Zweiter Schritt: Wer ist mein Kind?
Entwickeln Sie eine neugierige und gleichzeitig respektvolle Haltung, aus der heraus Sie immer wieder herausfinden wollen, wer Ihr Kind eigentlich ist. Dies ist notwendig, damit Sie besser wissen, mit wem Sie es tatsächlich zu tun haben. Denn nur wenn Sie das wissen, können Sie angemessen auf Ihr Kind eingehen. Andernfalls greifen alle Ihre Bemühungen mit großer Wahrscheinlichkeit ins Leere.
Darum: Welche Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte hat mein Kind? Was sind möglicherweise Gründe für sein momentanes Verhalten oder seine momentanen Interessen? Versuchen Sie die unter der Oberfläche verborgenen Ursachen und Gründe zu entdecken.
Welches Lebensgefühl herrscht bei meinem Kind vor: Zufriedenheit? Resignation? Euphorie? Unsicherheit? Traurigkeit? Gibt es dabei Unterschiede je nach Situation?
Wie gut gelingt ihm schon die Impulskontrolle, die Steuerung der Aufmerksamkeit und die Handlungsplanung. Wie gut kann es schon seine Emotionen regulieren?
Auch hier werden Sie nicht alle Antwort auf einmal finden, zumal sich alles immer im Laufe der Zeit auch verändern wird. Und auch diese Veränderungen gehören dazu und brauchen Beachtung.

Dritter Schritt: Wer sind wir?
Wenn Sie nun einerseits langsam eine klarere Idee davon haben, wer Sie selbst sind und wer Ihr Kind ist, müssen Sie andererseits noch herausfinden, wie Sie die Beziehung zu Ihrem Kind und das Familienleben gestalten wollen:
Welche meiner Ziele und Werte, welche Lebensweisen will ich meinem Kind überhaupt vermitteln? Und welche Strategien habe ich dafür?

Ich empfehle Ihnen einen Weg zu gehen, der sich durch Warmherzigkeit, Entschlossenheit und Unterstützung auszeichnet, einen Weg, der die gesunde Entwicklung des ganzen Menschen mit seinem Körper und seinem Geist einschließt. Dieser Weg liegt nicht geebnet vor Ihnen und wird kein Spaziergang sein, sondern er führt als Entdeckungsreise mitten durch das wilde Gestrüpp des Lebens und erfordert immer wieder Ihre Entschlossenheit:

1. 
Gehen Sie mit gutem Beispiel voran! Ihr Kind wird vor allen Dingen das von Ihnen lernen, was Sie ihm authentisch vorleben und wie Sie wirklich sind, und weniger das, was Sie sagen.

2.
Fördern Sie bei Ihrem Kind sehr grundsätzlich ein Gefühl der Sicherheit und Verbundenheit mit Ihnen, indem Sie elterliche Präsenz zeigen. Lassen Sie Ihr Kind erleben, dass Sie es sehen, hören und ernst nehmen. Vermeiden Sie das Entstehen von anhaltendem Stress im Miteinander.

3.
Entwicklen Sie mit Hilfe von Entspannungsübungen und Achtsamkeit die Fähigkeit, Emotionen und Handlungsimpulse zu regulieren - bei sich selbst und dann immer wieder auch bei Ihrem Kind in Form von unterstützender Koregulation. Seien Sie der Fels in der Brandung, an dem sich Ihr Kind, wenn es emotional hoch hergeht, orientieren und festhalten kann.

4.
Schaffen Sie immer wieder Raum und Zeit für Gespräch, in denen auch schwierige Emotionen und Gefühle sein dürfen, ohne dass diese ausagiert werden. Richten Sie gemeinsam immer wieder den Blick darauf, wie Emotionen im Körper spürbar sind. Lassen Sie den Körper durch Übungen der wechselnden Anspannung und Entspannung zur Ruhe kommen.

5.
Messen Sie die Qualität der Gespräche vor allen Dingen daran, wie gut Sie selbst zuhören können und wie wenig Aussagen Sie über den anderen machen.

6.
Versuchen Sie immer wieder durch bewusstes und für Ihr Kind miterlebbares Mentalisieren zu einem tieferen Verstehen Ihres Kindes zu gelangen, indem Sie seine Perspektive aktiv einnehmen und sich vorstellen, wie sich die Situation für Ihr Kind anfühlen könnte, ohne jedoch vorschnell Verständnis zu entwickeln. Mentalisieren bedeutet darüber hinaus auch, dass Sie sich selbst und Ihr Handeln von außen betrachten und reflektieren, wie Ihr Kind Sie wohl erleben wird.

7.
Teilen Sie Ihre guten Interessen und Ihre wertvolle Lebenserfahrungen altersangemessen mit Ihrem Kind. Haben Sie den Willen und den Mut voranzugehen. Zeigen Sie Ihrem Kind auch , dass Interessen und Wünsche für ein größeres Ganzes immer wieder auch gezügelt werden müssen.

8.
Setzen Sie klar, verständlich und in ruhiger Weise Ihre Grenzen und unterstützen Sie Ihr Kind dabei, seine Grenzen zu erkennen.

9.
Übergeben Sie Ihrem Kind die Verantwortung für Lebensbereiche und einzelne Situationen, die es alleine bewältigen kann. Lassen Sie es in diesen Bereichen Entscheidungen treffen und tatsächliche Konsequenzen erfahren.

10.
Stehen Sie mit liebevollem Rat und Unterstützung bereit, vor allen Dingen wenn Dinge schief laufen. Denn genau das sind die Momente, in denen warmherzige, entschlossene und unterstützende Eltern gebraucht werden.

Auch bei guter Vorbereitung kommt es bei Entdeckungsreisen immer wieder zu Überraschungen und Schwierigkeiten, die nur schwer alleine zu bewältigen sind. Gott sei Dank müssen Sie diesen Weg ja auch nicht alleine gehen. Suchen Sie sich also rechtzeitig Begleiter, Unterstützer und gegebenenfalls auch professionelle Berater, damit Sie nicht unnötig im Unterholz des Alltags stecken bleiben.


Was bei akuter Angst, Verzweiflung oder Panik hilft

Wenn Aufregung, Wut, Angst, Verzweiflung oder Panik Sie oder einen Menschen in Ihrem Umfeld erfasst, können die folgenden Übungen helfen: 1....