„Sei doch nicht so aggressiv!“, wird mir vorgehalten -„Ich bin doch gar nicht aggressiv!“, erwidere ich. Und die aggressive Atmosphäre im Raum ist tatsächlich spürbar.
Aggression hat bei vielen Menschen einen schlechten Ruf. Aggression soll nicht sein - weder will ich sie mir vorhalten lassen, noch will ich tatsächlich so sein. Oder doch?
Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie von einem anderen Menschen verbal, körperlich, sozial, räumlich, emotional oder auch politisch bedrängt werden:
- Ihre Mutter redet ohne Punkt und Komma auf Sie ein oder ein Nachbar verwendet beleidigende und verletzende Worte Ihnen gegenüber.
- Der Mann im Bus steht unnötig dicht bei Ihnen oder ihr Gesprächspartner berührt Sie wiederholt in einer für Sie unangenehmen Weise.
- Eine Bekannte möchte ständig mit Ihnen etwas unternehmen oder Ihr Kind fordert Sie zu einem für Sie nicht passenden Zeitpunkt mit Nachdruck wiederholt zum gemeinsamen Spielen auf.
- Ihr Lebenspartner verstellt Ihnen den Weg aus der Küche, weil er Sie zu einem Gespräch zwingen will, oder jemand anderes drängelt sich an der Kinokasse vor.
- Ihre Arbeitskollegin nutzt jede Gelegenheit, Ihnen von ihren privaten Problemen zu erzählen, oder irgendjemand verfolgt Sie mit seinen Liebesbekundungen, die Sie nicht erwidern wollen.
- Politiker zeigen sich unverantwortlich hinsichtlich des Schutzes auch Ihrer natürlichen Lebensgrundlagen oder politische Gruppierungen missachten die für Sie unantastbare Würde Andersdenkender.
Der Andere beachtet und respektiert also nicht Ihre Grenze. Wenn Sie sich dadurch nicht nur bedrängt, sondern auch bedroht fühlen in Ihrer körperlichen und mentalen Unversehrtheit, taucht spätestens dann ein Gefühl des Ärgers oder der Wut auf. Ärger und Wut sind starke Signale dafür, dass irgendetwas in unserem Umfeld nicht richtig für uns ist. Wut ist die Energie, die unser Körper automatisch mobilisiert, um die Unstimmigkeit für uns wieder stimmig machen zu können. Und diese Wut drängt in Form von Aggression nach außen.
Aggression ist eine in uns angelegte Verhaltensweise. Alle unsere historischen Vorfahren haben Bedrohungen erfolgreich durch Aggression abgewendet und damit ihr Überleben und die Weitergabe ihrer Gene gesichert. Aggression ist also im Menschen als erfolgreicher Ausdruck einer grundsätzlichen Überlebensenergie angelegt und deshalb taucht sie auch in uns modernen Menschen immer wieder auf. Solange ich im Falle einer Bedrohung noch die Möglichkeit zum Handeln habe, werde ich mich verteidigen, angreifen oder - auch das braucht ein gutes Maß an Aggression - flüchten. Und damit dies auch schnell und erfolgreich geschehen kann, sind diese Handlungsmuster in unserem autonomen Nervensystem fest eingeschrieben (siehe hierzu auch den Blogbeitrag über die Polyvagal-Theorie: Sicherheit und soziale Interaktion).
Aggression ist also grundsätzlich nicht schlecht, wenn sie denn tatsächlich mein Überleben sichert. Die Frage ist daher vielleicht nicht, ob Aggression sein darf, sondern welche Form und welches Maß an Aggression in welcher Situation sinnvoll und angemessen ist.
Unser Strafrecht ist da ziemlich klar: Wenn ich angegriffen werde und gegenwärtig in Not bin, darf ich mich wehren. Die Notwehr darf ohne Beschränkung der Mittel, also auch mit tödlicher Gewalt ausgeübt werden und bleibt straffrei. Bei der Notwehr ist jedoch ein Maß zu wählen, dass die Not zwar sicher beendet, aber keinen unnötigen Schaden anrichtet. Und die Notwehr muss sich auf etwas gegenwärtiges beziehen. Ist die Bedrohung im Hier und Jetzt nicht gegeben, kann es auch keine Notwehr geben.
Notwehr ist also eine für das körperliche und auch psychische Überleben notwendige Aggression, eine gegebenenfalls gravierende Aggression und eine legitime Aggression.
Und doch hat Aggression einen schlechten Leumund. Aggressive Kinder und Jugendliche bereiten zunehmend Sorge, aggressive Autofahrer stellen ein Problem im Straßenverkehr dar und aggressive Fußball-Hooligans oder Demonstranten sind kaum in Schach zu halten. Woran liegt das?
Aggression ist nicht gleich Aggression. Es gibt eine Aggression, mit der ich meine Grenzen verteidige, und es gibt eine Aggression, mit der ich den Raum des Anderen betrete und verletze oder die gegen mich selber gerichtet ist. Es gibt eine Aggression, die ich reguliere, eine Aggression, die sich in mich hineinfrisst, und es gibt eine Aggression, die explodiert und blind wütet. Nicht jede dieser Formen der Aggression ist gesund und akzeptabel!
Die gesunde Aggression ist eine positive Kraft, eine zielgerichtete Stärke. Die gesunde Aggression ist reguliert (siehe hierzu auch den Blogbeitrag Selbstregulation: Wieder zur Ruhe kommen). Sie ist Ausdruck meiner inneren Autorität („Das geht mit mir!“) und der Balance zwischen Selbstbehauptung und Respekt für den Anderen. Sie braucht die Klarheit des eigenen Wollens und den Mut, mit der notwendigen Energie dafür einzutreten, ohne über das Ziel der eigenen Unversehrtheit hinauszuschießen. In diesem Sinne ist auch die Notwehr eine Form der gesunden Aggression.
Wenn ich weiß, wer ich bin, was meine Werte, Bedürfnisse und Grenzen sind und Kontakt zu meiner inneren Autorität habe, wenn ich Bedrängen, Angriffen und Übergriffen rechtzeitig entschlossen, klar und mutig entgegentrete und mich gleichzeitig von der aggressiven Energie des Anderen abgrenze und den Respekt nicht verliere, dann bleibe ich im Feld der gesunden Aggression:
- Hör auf, so mit mir zu reden!
- Halte Abstand zu mir!
- Meine Zeit bekommst du nicht!
- Geh mir aus dem Weg!
- Lass mich in Ruhe!
- Das kannst du mich betreffend so nicht länger machen!
So bin ich einerseits gefeit vor Unterwürfigkeit und Resignation, die Ausdruck einer zu geringen oder fehlenden Beachtung der eigenen Bedürfnisse und Grenzen sind. Anderseits kommt es dann nicht zu explosiver und dysfunktionaler Aggression, die planlos und unangemessen, unnötig zerstörend, vernichtend und übergriffig ist.
Unterdrückte Wut und Aggression ist auf Dauer ungesund, weil sie die Aggression nach innen umleitet, unser gesundes Selbstgefühl beschädigt oder sogar zerstört, chronische Scham in uns aktiviert und uns körperlich und mental krank macht. Darüber hinaus kann es auch immer zu aggressiven Ausbrüchen kommen, die im Ergebnis dysfunktional sind.
Es kommt also darauf an, sich selber kennen zu lernen, seine Bedürfnisse, sein Wollen, seine Grenzen. Es geht darum, ein mutiges Gefühl für sich selbst zu entwickeln und die Bereitschaft, sich entschlossen um sich selbst zu kümmern. Die Wut gibt uns dazu die Energie, die Selbstregulation die notwendige Klarheit. Gesunde Aggression verschafft uns auf diese Weise den notwendigen Respekt für unsere Person und zeigt immer auch grundsätzlichen Respekt für den Anderen, indem es ihn sein lässt, solange er unsere Grenzen und unseren Wunsch nach Unversehrtheit anerkennt.
Strafrecht-Blog: Wann liegt Notwehr vor und was ist Nothilfe?
https://www.strafrecht-bundesweit.de/strafrecht-blog/notwehr-oder-nothilfe/