28. Dezember 2025

Der Weg raus aus dem Trauma

Ein psychisches Trauma geht zurück auf eine Erfahrung in der Vergangenheit, die für den Menschen so überwältigend war und noch immer als so überwältigend erlebt wird, dass sein Gefühl für die eigene Beständigkeit über die Zeit ins Wanken geraten oder sogar verloren gegangen ist. 

  • Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. 
  • Meine Erinnerungen fühlen sich fremd an.
  • Und die Zukunft hat keine Bedeutung.
  • Alles dreht sich nur noch um die eine Sache.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden nicht mehr als etwas Zusammenhängendes erfahren. Die zeitliche Abfolge von Ereignissen ist zerfallen. Das furchtbare Geschehen wird nicht als abgeschlossene und bewältigte Vergangenheit erlebt, sondern als noch immer schmerzvoll in Körper, Emotionen und Geist gegenwärtig. Die Vorstellung einer unbeschwerten Zukunft gibt es nicht. Das Gefühl, dass das eigene Leben und Erleben Zusammenhang, Fortschritt und Sinn hat, ist verloren gegangen. Die innere Stimmigkeit oder Kohärenz ist zerfallen, das Selbst zersplittert oder fragmentiert.


Ziel der Traumatherapie ist es, diese Fragmentierung des Selbsterlebens zu heilen, indem das, was zersplittert wurde, wieder in Beziehung zueinander gebracht wird. Das entstandene Chaos wird geordnet und das Erstarrte kommt wieder in Fluss. In einem Prozess der körperlichen, emotionalen und geistigen Neuorientierung kann der Mensch sein Gefühl für innere Stimmigkeit und Kohärenz wiederfinden. Alle Erfahrungen des Lebens finden ihren Platz in einer sinnerfüllten und erzählbaren Lebensgeschichte. Auf der Grundlage des aktualisierten Selbsterlebens wird es möglich, wieder Entscheidungen für das vor einem liegende Leben treffen.


Im folgenden Schaubild ist in vereinfachter Form dargestellt, wie sich in der Traumatherapie aus verlorener Kohärenz durch Prozesse der Integration des fragmentierten Erlebens eine neue Kohärenz entwickeln kann.


Trauma und Traumatherapie

Kohärenz ist ein Lebensgefühl. Die eigenen Wahrnehmungen, die Empfindungen, das Denken, die Emotionen und das Handeln werden als zusammenhängendes und zugleich dynamisches Ganzes erlebt, als individuell verstehbar, handhabbar und sinnvoll erfahrbar. Der Verlust dieses Lebensgefühls infolge eines erschütternden Ereignisses und die daraus entstandene Fragmentierung des Selbst können als posttraumatische Belastung erlebt werden.


In der Traumatherapie können die Fragmente des Selbst wieder so zusammengefügt und miteinander integriert werden, dass erneut ein Ganzes entsteht: verstehbar, handhabbar und sinnvoll. Dies geschieht durch drei spiralförmig miteinander verbundene Prozessen.


1. Aktivierung eigener Ressourcen

Zunächst werden eigene Ressourcen, die aus dem Blick geraten sind, behutsam wieder in den Blickpunkt gerückt und gestärkt. Dabei wird einerseits an die Zeit vor dem Trauma angeknüpft und andererseits das Hier und Jetzt als lebendiger und sicherer Ort erfahrbar gemacht. Wichtige Aspekte sind hier das Erkennen sozialer Ressourcen in der Gegenwart, das Wahrnehmen von Momenten der Dankbarkeit im Alltag sowie die achtsame Hinwendung zu einer gesunden Lebensführung, die das körperliche Wohlbefinden unterstützt.


2. Entwicklung neuer Kompetenzen

Nach und nach kann dann damit begonnen werden, Kompetenzen zu entwickeln, die Selbstfürsorge sowie Handlungsfähigkeit stärken und zu einer besseren Orientierung in Körper und Geist führen. Dies wird eine bessere Entscheidungsfindung unterstützen.

Dazu gehören körperorientierte Übungen der Erdung, der Stabilität, der Ausdehnung und Kontraktion, des Kontakts sowie der Grenzsetzung. Die Einbeziehung einfacher Atem- und Körperübungen aus dem Yoga kann darüber hinaus die Harmonie von Körper und Geist im Hier und Jetzt anregen und vertiefen.

Eine wichtige Praxis ist die Vertiefung der Selbstwahrnehmung durch regelmäßige achtsame Betrachtung der fünf Aspekte des Selbsterlebens: Wahrnehmungen, Empfindungen, mentalen Prozesse, Emotionen und Handlungsimpulse. Sie fördert Orientierung und ein fortlaufendes Aktualisieren des Selbst.

Meditative Übungen, die Wertschätzung, Achtung und Mitgefühl für sich selbst stärken, vervollständigen diese Entwicklung im mentalen Bereich.

Durch regelmäßiges Praktizieren werden sich Fortschritte hinsichtlich innerer Stabilität und Ruhe sowie Klarheit im Handeln einstellen. Wichtig ist, diese auch regelmäßig bewusst wahrzunehmen und zu reflektieren. So entsteht ein solides Fundament für die nächste Phase: die Konfrontation mit belastenden Emotionen, die mit dem traumatischen Ereignis verbunden sind.


3. Konfrontation mit leidvollen Emotionen

Mit zunehmender mentaler und emotionaler Stabilität im Hier und Jetzt entsteht auch die Möglichkeit, sich den schmerzvollen Emotionen, die mit dem erschütternden Ereignis in Verbindung stehen, reguliert zuzuwenden. Hilfreiche therapeutische Konzepte sind dabei die Verkörperung von belastenden Emotionen, wie Raja Selvam sie in der Integralen Somatischen Psychologie praktiziert, und die sogenannte „Nadelöhr-Arbeit“ von Peter Levine, bei der es um die feinfühlige Begleitung äußerst tiefgreifender und oft existenzieller psychischer Verletzungen geht. In beiden Konzepten steckt die Idee der Befreiung von der Angst vor Emotionen, damit die durch sie blockierten Lebensenergien wieder frei fließen können.


Posttraumatisches Wachstum


Die auf diesem spiralförmigen Weg Schritt für Schritt entstehende Kohärenz wird ein lebendiges Bild des eigenen Lebens mit seinen vielen Facetten sein. Sie wird neu sein, da sie die leidvollen Erfahrungen von Verlust des Geliebten, Zerstörung des Gewohnten und gegebenenfalls das Noch-nie-Dagewesene miteinschließt. Auf diesem Weg des posttraumatischen Wachstums erweitern sich die Perspektiven auf das eigene Leben und das Selbst gewinnt an Resilienz.


Ob ein Mensch in einem Zustand der posttraumatischen Belastung stecken bleibt, hängt also entscheidend davon ab, was er mit und aus dem, was er erlebt hat, schöpferisch macht. So wie aus vielen Wörtern nur dann ein Gedicht und aus vielen Noten nur dann eine Melodie wird, wenn ein kreativer Mensch sie dichtet und komponiert, so kann auch aus einem fundamental erschütterten Leben nur dann wieder ein erfülltes Leben werden, wenn die Fragmente schöpferisch zusammenfügt werden.



Was ist eigentlich ein psychisches Trauma?

Was ist eigentlich ein psychisches Trauma?Wenn ein Mensch im Hier & Jetzt seelisch leidet, wenn es ihm psychisch nicht gut geht und das ursächlich mit etwas zu tun hat, was in der Vergangenheit geschehen ist, dann kann man sagen, dass der Mensch ein psychisches Trauma hat. 


Einem psychischenTrauma geht also eine Situation in der Vergangenheit voraus, in der der betroffene Mensch sich sehr grundlegend bedroht oder nicht sicher gefühlt hat. Dadurch wurden starke oder intensive Gefühle von Angst und Wut, von Hilflosigkeit, Verzweiflung und Ohnmacht ausgelöst, die zu Handlungsunfähigkeit, Resignation und Dissoziation geführt haben. Weil es dem Menschen damals weder allein noch mit Unterstützung eines Mitmenschen gelang, wieder in ein Gefühl der Sicherheit zu kommen und die bedrohliche Situation mit einem Gefühl von Bewältigung oder sogar Triumph über die Situation zu beenden, entstand ein bis in die Gegenwart wirkendes Gefühl der Niederlage, Demütigung, Leere oder Verbitterung. Statt individuellem Wachstum dominiert Erstarrung und Regression.

Dieses anhaltende, wieder und wieder getriggerte Gefühl ist der Ausgangspunkt für das stets neu erlebte Leid in der Gegenwart. Es löst wiederholt Gefühle von Angst und Wut, von Hilflosigkeit, Verzweiflung und Ohnmacht aus.


Verallgemeinernd lässt sich formulieren: Das Nervensystem des Menschen ist in der damaligen Situation in einen dysregulierten Zustand geraten, aus dem es bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht stabil in einen regulierten Zustand zurückgefunden hat.


Das getriggerte Gefühl, bedroht oder nicht sicher zu sein, ist real und führt zu unterschiedlich ausgeprägtem seelischem Leid und zu Verhaltensweisen, die für den Menschen und sein soziales Umfeld mehr oder weniger schwierig oder auch problematisch sind.


Arten von psychischem Trauma


Es lassen sich in Abhängigkeit von der Art der Situation, die das Trauma letztlich auslöst, verschieden Klassen von psychischem Trauma unterscheiden:


  • Schocktrauma: War die das Trauma auslösende Situation einmalig, spricht man von einem Schocktrauma zum Beispiel aufgrund eines Unfalls, einer Gewalttat oder einer Naturkatastrophe. 
  • Entwicklungstrauma / komplexes Trauma: Bestand die auslösende Situation über einen längeren Zeitraum mit immer wieder erlebter Bedrohung und Gefahr, spricht man von einem Entwicklungstrauma oder Komplexen Trauma. Eine solche Situation liegt zum Beispiel in Fällen von lang anhaltender Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch in der Kindheit und in sozialen Beziehungen vor, bei Gefangenschaft und Folter.
  • Kollektives Trauma: Betraf die Situation nicht nur den einzelnen Menschen, sondern eine Gruppe von Menschen, spricht man von einem Kollektiven Trauma. Beispiele dafür sind Krieg, Völkermord, Vertreibung. Auch Rassismus und jede Form von Diskrimierung sozialer Gruppen fallen darunter.
  • Sekundäres Trauma: Von einem Sekundären Trauma spricht man, wenn die belastende Situation darin bestand, dass der Mensch wiederholt den Traumareaktionen anderer ausgesetzt war, ohne die eigentliche Situation selbst direkt erlebt zu haben. Dies kann zum Beispiel bei Helferberufen vorkommen, die sich um traumatisierten Menschen kümmern, oder auch bei Menschen, die mit traumatisierten Bezugspersonen aufwachsen. 
  • Transgenerationales Trauma: Wenn die Weitergabe des Traumas sich über eine oder mehrere Familiengenerationen erstreckt, spricht man auch von einem Transgenerationalen Trauma.


Alte Gefühle im Hier & Jetzt


Die starken Gefühle und das daraus folgende Verhalten waren im Dort & Damals eine unmittelbare und mit großer Wahrscheinlichkeit durchaus sinnvolle Reaktion auf eine gefährliche oder sogar lebensbedrohliche Situation. Auch wenn die akute Situation eigentlich vorbei ist, so hat sie doch bis heute Bedeutung.


Jedes Mal, wenn der Mensch sich in einer ähnlich erscheinenden Situation im Hier & Jetzt erlebt, wird die Erinnerung an diese unabgeschlossen gebliebene Situation getriggert. Jedes Mal tauchen dann mehr oder weniger bewusst die alten Gefühlen von Niederlage, Demütigung oder Verbitterung, verbunden mit aktueller Angst, Wut, Verzweiflung und Ohnmacht wieder auf.


Die getriggerten Gefühle und das damit verbundene Leid im Hier & Jetzt sind echt. Doch die damit verbundene Erzählung, das Narrativ, ist im Hier & Jetzt nicht mehr zutreffend. Schließlich ist das Hier & Jetzt nicht das Dort & Damals. 


Der Mensch könnte eine neue Erzählung beginnen: Das Gestern ist vorbei. Ich habe überlebt, bin erfahrener geworden und kann jetzt neu entscheiden. Das Leben liegt vor mir. Doch weil die alte Erzählung so mächtig und noch nicht zur Ruhe gekommen ist, tauchen die Gefühle und das damit verbundene Leiden in zahlreichen Situation im Hier & Jetzt immer wieder auf. Sind sie erst einmal getriggert, entstehen vielfältige psychische Problematiken, die nicht nur über längere Zeit anhalten, sondern sich gegebenenfalls auch in ihrer Schwere und Beständigkeit immer weiter verstärken.


Problematiken und Diagnosen


Zu den Problematiken gehören:


  • eine hohe Erregbarkeit, verbunden mit Angst und körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Atemnot, Muskelanspannung, innerer Unruhe und Schlafstörungen;
  • belastende Gedanken, die einen nicht loslassen;
  • lang anhaltende Traurigkeit und gedrückte Stimmung, die die Lebensfreude lähmen;
  • Schwierigkeiten im sozialen Umgang, die zu Rückzug oder Ausschluss führen;
  • körperliche Beschwerden, die schulmedizinisch nicht erfolgreich behandelbar sind;
  • übermäßiger Konsum von Nahrung, Alkohol und Drogen sowie Medikamenten bis hin zur Sucht.


All dies kann sich dann in den folgenden psychopathologischen Diagnosen widerspiegeln:


  • Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1),
  • Anpassungsstörung (F43.2),
  • Panikstörung (F41.0),
  • Generalisierte Angststörung (F41.1),
  • Anhaltende affektive Störungen: Zyklothymia (F34.0) und Dysthymia (F34.1),
  • Somatoforme Störung (F45),
  • Essstörungen (F50) und
  • Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19).


Perspektiven


Ein psychisches Trauma kann sehr unterschiedliche Ursachen haben und zu sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen führen. Bei ruhiger Betrachtung im Hier & Jetzt werden sie auch vom Betroffenen selbst oftmals als unangemessen erlebt.


„Ich weiß gar nicht, warum ich jetzt so wütend geworden bin.

Es ist doch eigentlich gar nichts Schlimmes passiert.“

„Eigentlich geht's mir doch gut. Aber es fühlt sich oft gar nicht so an.“

„Wenn ich so was sehe, ist sofort die Erinnerung da und ich könnte heulen.“


Die gute Nachricht ist, dass es Möglichkeiten gibt, sich aus den traumatischen Verstrickungen, in denen man steckt, zu befreien und damit dem Leiden Schritt für Schritt ein Ende zu setzen. Auch wenn die alten Gefühle stark sind, gibt es Wege, die Erinnerung zur Ruhe kommen zu lassen und das Leben im Hier & Jetzt zu leben.

Wie dies gelingen kann, erfahren Sie in meinem Blogbeitrag „Der Weg raus aus dem Trauma"

5. Oktober 2025

Nie ohne Gefühle

Nie ohne Gefühle
Menschen sind nie ohne Gefühle, so wie ein Haus niemals ganz leer ist.


Ein Haus ist meist voller Leben. Menschen gehen ein und aus, manchmal auch zu viele. Vielleicht ist es laut, überbordend eingerichtet, aufdringlich dekoriert, vielleicht unaufgeräumt. Es kann verwaist sein, wie ausgestorben oder aufgegeben und den Eindruck machen, nie wirklich bewohnt gewesen zu sein. Und doch ist da immer noch etwas: die alte Tapete oder ein fleckiger Anstrich an der Wand, ein Bodenbelag aus einer anderen Zeit, ein vergessenes Regal mit verstaubten Dingen, ein Müllsack auf der Kellertreppe oder Spinnweben auf dem Dachboden.


Genauso sind wir nie wirklich ohne Gefühle. Irgendein Gefühl ist immer da. Manche Gefühle gefallen uns und wir möchten sie gerne bewahren. Manche finden wir unangenehm: Sie machen uns Angst oder quälen uns und wir wollen sie loswerden. Manchmal bemerken wir Gefühle vielleicht auch gar nicht, weil wir ihnen keine Bedeutung beimessen, uns an sie gewöhnt haben, sie übergehen oder einfach nicht zulassen wollen.


Überprüfen Sie einmal: Welches Gefühl ist da gerade in Ihnen, während Sie diesen Text lesen? Interesse, Zufriedenheit, Ungeduld, Müdigkeit, Leere, Besorgtheit, Einsamkeit, Erfülltheit, Traurigkeit, Begeisterung, Skepsis, Glück, Neugier, Unzufriedenheit oder Langeweile? Irgendein Gefühl - angenehm, unangenehm oder unerheblich - werden Sie bestimmt entdecken, oder?


Gefühle sind Energiezustände in unserem Körper. Unser Autonomes Nervensystem erzeugt sie als Antwort auf seine Bewertung der Situation, in der wir uns gerade befinden. Es bewertet, ob und inwieweit die Situation für uns gefährlich oder sicher ist. Und dann stellt es uns genau die Energie so zur Verfügung, dass wir - nach seiner Vorstellung - angemessen auf die Herausforderung reagieren können. Diese Energiezustände können wir wahrnehmen und wir erleben sie als angenehmes oder unangenehmes Gefühl in unserem Körper. Angenehme Gefühle werden uns dann zu einem anderen Verhalten bewegen als unangenehme. Und wenn wir nicht aufpassen, wenn wir uns weder des Gefühls noch des sich automatisch anbahnenden Verhaltens bewusst sind, kann unser Verhalten recht unüberlegt sein.


Ein Beispiel:

Laute Punkrock-Musik ist in der Wohnung zu hören. Für den 16-jährigen Verursacher ist das in keiner Weise bedrohlich. Im Gegenteil: Er fühlt sich durch die Musik inspiriert und lebendig. Daher wird er auch nichts tun, was die Situation verändert, sondern sie einfach nur genießen wollen. Und das tut er dann auch, ohne weiter darüber nachzudenken.

Der von der Arbeit nach Haus kommende Vater fühlt sich jedoch mit der Musik unwohl: Sein Bedürfnis nach Entspannung ist gefährdet und ein Gefühl von Ärger entsteht. Gleichzeitig wird er einen Impuls verspüren, kämpferisch dafür zu sorgen, dass die Musik ein Ende findet. Vielleicht scheut er aber auch die konfrontative Auseinandersetzung mit seinem Sohn und versucht stattdessen, die laute Musik und seinen Unmut darüber zu ignorieren. Mit der erhofften Entspannung hat das dann wenig zu tun. Anspannung und ein unangenehmes Gefühl von Hilflosigkeit werden in ihm nagen. Würde er sich hingegen für Punkrock-Musik begeistern, wäre ein ganz anderes Verhalten für ihn möglich. Er könnte sich dann nicht nur entspannen, sondern auch gemeinsam mit seinem Sohn eine gute Zeit haben.


Gefühle, die von unserem Autonomen Nervensystem ausgelöst werden, haben also eine maßgebliche Bedeutung für unser Verhalten. Wenn wir nicht aufpassen, bestimmen sie unser Verhalten in einer Weise, die wir, wenn wir nachdenken, gar nicht wollen. Gelingt es uns jedoch, die Reiz-Reaktions-Kette zu unterbrechen, uns stattdessen zu Beobachtern unserer Gefühle zu machen, dann können wir diese an die Hand nehmen und entscheiden, wie wir uns - vielleicht vernünftiger - verhalten wollen, anstatt uns von ihnen an die Hand nehmen zu lassen und zusehen zu müssen, was sie mit uns machen.


Die Veränderung unseres Verhaltens, die Unterbrechung der Reiz-Reaktions-Kette beginnt also mit der Beobachtung unserer Gefühle. Das Beobachten stoppt die Reaktion und ermöglicht statt dessen das Bezugnehmen auf einen Reiz. Wir reagieren nicht mehr nur einfach auf die Welt um uns herum, sondern wir beziehen uns auf sie, nachdem wir uns orientiert haben, was wirklich ist und was wir wirklich tun wollen.



Schöne Monster


Tsoknyi Rinpoche (www.lionsroar.com) nennt die Gefühle, die uns das Leben schwer machen und von denen wir uns wünschen, dass sie einfach verschwinden, Schöne Monster. Sie sind Monster, weil sie uns quälen und ihre Energie für uns und andere Menschen zu einer zerstörerischen Energie werden kann. Gleichzeitig haben sie eine verborgene Schönheit, die sie uns aber erst dann offenbaren, wenn wir den Mut haben, ihnen mit Achtsamkeit und Offenheit zu begegnen.


Schöne Monster

Die Schönen Monster kommen aus einer vergangenen Zeit, in der sie uns in einer für uns bedrohlichen Situation beschützen wollten. Und weil ihnen das dort und damals nicht hinlänglich gelungen ist, kommen sie immer wieder, wenn etwas im Hier und Jetzt sie an die Situation im Dort und Damals erinnert. Wieder und wieder versuchen sie so, in uns ein Verhalten auszulösen, mit dem wir die Bedrohung hoffentlich nun endlich erfolgreich abwehren können.


Dabei übersehen die Schönen Monster, dass wir uns aktuell gar nicht in der großen Gefahr des Dort und Damals befinden und dass für die gegenwärtige Situation ein anderes Verhalten sehr wahrscheinlich  sinnvoller sein könnte. Sind sie aber erst einmal aufgetaucht, werden sie zu der Brille, durch die wir die Welt und uns selbst nur noch verzerrt sehen können. Heißen wir sie jedoch willkommen und wenden wir uns ihnen mit Interesse zu, werden sie uns erzählen, woher sie kommen, wobei sie uns helfen wollen und was notwendig ist, damit sie und auch wir zur Ruhe kommen können. Und dann, sagt Tsoknyi Rinpoche, verwandeln sich unseren Schönen Monstern zu unseren Verbündeten, weil wir verstehen, dass sie zu unserer seelischen Gesundheit beitragen wollen und wir gemeinsam mit ihnen neue Weg durch das Leben finden können.


Das Gasthaus


Schon im 13. Jahrhundert beschäftigte sich der persische Mystiker Rumi in einem Gedicht mit der Frage, wie wir mit den Gefühlen umgehen können, die uns immer wieder bedrängen. Er verglich dabei den Menschen mit einem Gasthaus, in das immer wieder überraschend unerwartet Gefühle einkehren und sich breitmachen. Sein Rat für uns ist es, alle Gefühle willkommen zu heißen und ihnen mit Offenheit zu begegnen, da sie uns etwas Bedeutsames über uns selbst offenbaren können, das wir ohne sie vielleicht gar nicht entdecken können.


Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.

Jeden Morgen ein neuer Gast.

Freude, Kummer und Niedertracht.

Auch ein kurzer Moment Achtsamkeit

kommt als unerwarteter Gast.


Heiße alle willkommen und sei ihnen Gastgeber.

Selbst wenn sie ein Haufen Sorgen sind,

die brutal alle Möbel aus dem Haus werfen.

Egal. Behandle jeden Gast respektvoll.

Vielleicht schafft er Raum für ganz neue Freuden.


Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Boshaftigkeit -

öffne ihnen lachend die Tür

und lade sie ein, dein Gast zu sein.


Sei dankbar für jeden, der kommt.

Denn alle sind zu deiner Führung geschickt worden

aus einer anderen Welt.



Das Grand Hotel der Gefühle


Das Grand Hotel der Gefühle
Können Sie sich vorstellen, wie es in einem Hotel zugeht, in dem als einzige Gäste die unterschiedlichsten Gefühle für kurze oder auch längere Zeit logieren? In ihrem poetischen Bilderbuch Das Grand Hotel der Gefühle lässt Lidia Brankovic die Hoteldirektorin aus ihrem Alltag mit all den manchmal auch ein bisschen komplizierten Gästen erzählen:


„Gefühle gibt es in allen Formen und Größen.

Manche sind riesig, mache sind klein.

Manche Gefühle sind sogar unsichtbar.

Man weiß nicht einmal, dass sie da sind,

bis das Licht sie zufällig einfängt.

Ich versuche, mir für alle Gefühle genügend Zeit zu nehmen,

um herauszufinden, was sie brauchen.

Das ist gar nicht immer so einfach,

gerade wenn im Hotel viel los ist.“


Ob Lidia Brankovic das Gedicht von Rumi kannte, als sie ihre Geschichte zeichnerisch zu Papier brachte, ist nicht klar. Ihr wunderschönes Bilderbuch ist jedoch bestens dafür geeignet, auch schon mit kleinen Kindern über Gefühle und den Umgang mit ihnen ins Gespräch zu kommen. So können sie lernen, dass Gefühle wie Gäste in einem Hotel immer wieder einmal kommen und gehen. Und die Kinder können darüber nachdenken, was sie machen können, wenn und solange die angenehmen und die unangenehmen Gefühle da sind.


Integrale Somatische Psychologie


Manchmal sind gerade die unangenehmen Gefühle übermäßig intensiv und hartnäckig. Sie kommen viel zu oft und bleiben viel zu lange. Und sie lassen keinen Platz für andere Gefühle, die wir vielleicht auch mal gerne zu Gast bei uns hätten. Wenn Gefühle dann anfangen, uns zu quälen, und das durch sie ausgelöste Leid immer weniger oder vielleicht auch gar nicht mehr auszuhalten ist, wenn damit einhergehend die Verzweiflung wächst, dann ist eine grundlegende Veränderung notwendig. Und diese ist möglich.


Ein gut geeigneter Weg, um die Gegenwart der Monster und der immer wieder in uns auftauchenden unliebsamen Gäste nicht länger als erdrückend zu erleben, ist das ganzheitliche therapeutische Konzept der Integralen Somatischen Psychologie von Raja Selvam, das ich Ihnen auch in meiner Praxis online und in Berlin anbiete. Es arbeitet mit den Emotionen in Körper und Geist und zielt dabei darauf, eine größere emotionale Kapazität zu entwickeln. Durch achtsame und verkörpernde Beschäftigung mit den überwältigenden Gefühlen, werden diese im therapeutischen Prozess so weit (ko)reguliert, dass wir nicht mehr den Eindruck haben, dass sie unsere Lebensenergie blockieren. Es entsteht mehr Raum für sinnliche Wahrnehmung, körperliche Empfindung und geistige Aktivität, wodurch die Energiezustände in uns insgesamt wieder in Bewegung kommen. Die unangenehmen Gefühle müssen dann nicht mehr endlos bleiben, sondern können kommen und gehen, und dadurch anderen Gefühlen mehr Raum lassen. Und dann kann auch die Lebensfreude wieder einziehen.


www.polyvagal-praxis.de/ISP

Der Weg raus aus dem Trauma

Ein psychisches Trauma geht zurück auf eine Erfahrung in der Vergangenheit, die für den Menschen so überwältigend war und noch immer als so ...