5. Oktober 2025

Nie ohne Gefühle

Nie ohne Gefühle
Menschen sind nie ohne Gefühle, so wie ein Haus niemals ganz leer ist.


Ein Haus ist meist voller Leben. Menschen gehen ein und aus, manchmal auch zu viele. Vielleicht ist es laut, überbordend eingerichtet, aufdringlich dekoriert, vielleicht unaufgeräumt. Es kann verwaist sein, wie ausgestorben oder aufgegeben und den Eindruck machen, nie wirklich bewohnt gewesen zu sein. Und doch ist da immer noch etwas: die alte Tapete oder ein fleckiger Anstrich an der Wand, ein Bodenbelag aus einer anderen Zeit, ein vergessenes Regal mit verstaubten Dingen, ein Müllsack auf der Kellertreppe oder Spinnweben auf dem Dachboden.


Genauso sind wir nie wirklich ohne Gefühle. Irgendein Gefühl ist immer da. Manche Gefühle gefallen uns und wir möchten sie gerne bewahren. Manche finden wir unangenehm: Sie machen uns Angst oder quälen uns und wir wollen sie loswerden. Manchmal bemerken wir Gefühle vielleicht auch gar nicht, weil wir ihnen keine Bedeutung beimessen, uns an sie gewöhnt haben, sie übergehen oder einfach nicht zulassen wollen.


Überprüfen Sie einmal: Welches Gefühl ist da gerade in Ihnen, während Sie diesen Text lesen? Interesse, Zufriedenheit, Ungeduld, Müdigkeit, Leere, Besorgtheit, Einsamkeit, Erfülltheit, Traurigkeit, Begeisterung, Skepsis, Glück, Neugier, Unzufriedenheit oder Langeweile? Irgendein Gefühl - angenehm, unangenehm oder unerheblich - werden Sie bestimmt entdecken, oder?


Gefühle sind Energiezustände in unserem Körper. Unser Autonomes Nervensystem erzeugt sie als Antwort auf seine Bewertung der Situation, in der wir uns gerade befinden. Es bewertet, ob und inwieweit die Situation für uns gefährlich oder sicher ist. Und dann stellt es uns genau die Energie so zur Verfügung, dass wir - nach seiner Vorstellung - angemessen auf die Herausforderung reagieren können. Diese Energiezustände können wir wahrnehmen und wir erleben sie als angenehmes oder unangenehmes Gefühl in unserem Körper. Angenehme Gefühle werden uns dann zu einem anderen Verhalten bewegen als unangenehme. Und wenn wir nicht aufpassen, wenn wir uns weder des Gefühls noch des sich automatisch anbahnenden Verhaltens bewusst sind, kann unser Verhalten recht unüberlegt sein.


Ein Beispiel:

Laute Punkrock-Musik ist in der Wohnung zu hören. Für den 16-jährigen Verursacher ist das in keiner Weise bedrohlich. Im Gegenteil: Er fühlt sich durch die Musik inspiriert und lebendig. Daher wird er auch nichts tun, was die Situation verändert, sondern sie einfach nur genießen wollen. Und das tut er dann auch, ohne weiter darüber nachzudenken.

Der von der Arbeit nach Haus kommende Vater fühlt sich jedoch mit der Musik unwohl: Sein Bedürfnis nach Entspannung ist gefährdet und ein Gefühl von Ärger entsteht. Gleichzeitig wird er einen Impuls verspüren, kämpferisch dafür zu sorgen, dass die Musik ein Ende findet. Vielleicht scheut er aber auch die konfrontative Auseinandersetzung mit seinem Sohn und versucht stattdessen, die laute Musik und seinen Unmut darüber zu ignorieren. Mit der erhofften Entspannung hat das dann wenig zu tun. Anspannung und ein unangenehmes Gefühl von Hilflosigkeit werden in ihm nagen. Würde er sich hingegen für Punkrock-Musik begeistern, wäre ein ganz anderes Verhalten für ihn möglich. Er könnte sich dann nicht nur entspannen, sondern auch gemeinsam mit seinem Sohn eine gute Zeit haben.


Gefühle, die von unserem Autonomen Nervensystem ausgelöst werden, haben also eine maßgebliche Bedeutung für unser Verhalten. Wenn wir nicht aufpassen, bestimmen sie unser Verhalten in einer Weise, die wir, wenn wir nachdenken, gar nicht wollen. Gelingt es uns jedoch, die Reiz-Reaktions-Kette zu unterbrechen, uns stattdessen zu Beobachtern unserer Gefühle zu machen, dann können wir diese an die Hand nehmen und entscheiden, wie wir uns - vielleicht vernünftiger - verhalten wollen, anstatt uns von ihnen an die Hand nehmen zu lassen und zusehen zu müssen, was sie mit uns machen.


Die Veränderung unseres Verhaltens, die Unterbrechung der Reiz-Reaktions-Kette beginnt also mit der Beobachtung unserer Gefühle. Das Beobachten stoppt die Reaktion und ermöglicht statt dessen das Bezugnehmen auf einen Reiz. Wir reagieren nicht mehr nur einfach auf die Welt um uns herum, sondern wir beziehen uns auf sie, nachdem wir uns orientiert haben, was wirklich ist und was wir wirklich tun wollen.



Schöne Monster


Tsoknyi Rinpoche (www.lionsroar.com) nennt die Gefühle, die uns das Leben schwer machen und von denen wir uns wünschen, dass sie einfach verschwinden, Schöne Monster. Sie sind Monster, weil sie uns quälen und ihre Energie für uns und andere Menschen zu einer zerstörerischen Energie werden kann. Gleichzeitig haben sie eine verborgene Schönheit, die sie uns aber erst dann offenbaren, wenn wir den Mut haben, ihnen mit Achtsamkeit und Offenheit zu begegnen.


Schöne Monster

Die Schönen Monster kommen aus einer vergangenen Zeit, in der sie uns in einer für uns bedrohlichen Situation beschützen wollten. Und weil ihnen das dort und damals nicht hinlänglich gelungen ist, kommen sie immer wieder, wenn etwas im Hier und Jetzt sie an die Situation im Dort und Damals erinnert. Wieder und wieder versuchen sie so, in uns ein Verhalten auszulösen, mit dem wir die Bedrohung hoffentlich nun endlich erfolgreich abwehren können.


Dabei übersehen die Schönen Monster, dass wir uns aktuell gar nicht in der großen Gefahr des Dort und Damals befinden und dass für die gegenwärtige Situation ein anderes Verhalten sehr wahrscheinlich  sinnvoller sein könnte. Sind sie aber erst einmal aufgetaucht, werden sie zu der Brille, durch die wir die Welt und uns selbst nur noch verzerrt sehen können. Heißen wir sie jedoch willkommen und wenden wir uns ihnen mit Interesse zu, werden sie uns erzählen, woher sie kommen, wobei sie uns helfen wollen und was notwendig ist, damit sie und auch wir zur Ruhe kommen können. Und dann, sagt Tsoknyi Rinpoche, verwandeln sich unseren Schönen Monstern zu unseren Verbündeten, weil wir verstehen, dass sie zu unserer seelischen Gesundheit beitragen wollen und wir gemeinsam mit ihnen neue Weg durch das Leben finden können.


Das Gasthaus


Schon im 13. Jahrhundert beschäftigte sich der persische Mystiker Rumi in einem Gedicht mit der Frage, wie wir mit den Gefühlen umgehen können, die uns immer wieder bedrängen. Er verglich dabei den Menschen mit einem Gasthaus, in das immer wieder überraschend unerwartet Gefühle einkehren und sich breitmachen. Sein Rat für uns ist es, alle Gefühle willkommen zu heißen und ihnen mit Offenheit zu begegnen, da sie uns etwas Bedeutsames über uns selbst offenbaren können, das wir ohne sie vielleicht gar nicht entdecken können.


Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.

Jeden Morgen ein neuer Gast.

Freude, Kummer und Niedertracht.

Auch ein kurzer Moment Achtsamkeit

kommt als unerwarteter Gast.


Heiße alle willkommen und sei ihnen Gastgeber.

Selbst wenn sie ein Haufen Sorgen sind,

die brutal alle Möbel aus dem Haus werfen.

Egal. Behandle jeden Gast respektvoll.

Vielleicht schafft er Raum für ganz neue Freuden.


Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Boshaftigkeit -

öffne ihnen lachend die Tür

und lade sie ein, dein Gast zu sein.


Sei dankbar für jeden, der kommt.

Denn alle sind zu deiner Führung geschickt worden

aus einer anderen Welt.



Das Grand Hotel der Gefühle


Das Grand Hotel der Gefühle
Können Sie sich vorstellen, wie es in einem Hotel zugeht, in dem als einzige Gäste die unterschiedlichsten Gefühle für kurze oder auch längere Zeit logieren? In ihrem poetischen Bilderbuch Das Grand Hotel der Gefühle lässt Lidia Brankovic die Hoteldirektorin aus ihrem Alltag mit all den manchmal auch ein bisschen komplizierten Gästen erzählen:


„Gefühle gibt es in allen Formen und Größen.

Manche sind riesig, mache sind klein.

Manche Gefühle sind sogar unsichtbar.

Man weiß nicht einmal, dass sie da sind,

bis das Licht sie zufällig einfängt.

Ich versuche, mir für alle Gefühle genügend Zeit zu nehmen,

um herauszufinden, was sie brauchen.

Das ist gar nicht immer so einfach,

gerade wenn im Hotel viel los ist.“


Ob Lidia Brankovic das Gedicht von Rumi kannte, als sie ihre Geschichte zeichnerisch zu Papier brachte, ist nicht klar. Ihr wunderschönes Bilderbuch ist jedoch bestens dafür geeignet, auch schon mit kleinen Kindern über Gefühle und den Umgang mit ihnen ins Gespräch zu kommen. So können sie lernen, dass Gefühle wie Gäste in einem Hotel immer wieder einmal kommen und gehen. Und die Kinder können darüber nachdenken, was sie machen können, wenn und solange die angenehmen und die unangenehmen Gefühle da sind.


Integrale Somatische Psychologie


Manchmal sind gerade die unangenehmen Gefühle übermäßig intensiv und hartnäckig. Sie kommen viel zu oft und bleiben viel zu lange. Und sie lassen keinen Platz für andere Gefühle, die wir vielleicht auch mal gerne zu Gast bei uns hätten. Wenn Gefühle dann anfangen, uns zu quälen, und das durch sie ausgelöste Leid immer weniger oder vielleicht auch gar nicht mehr auszuhalten ist, wenn damit einhergehend die Verzweiflung wächst, dann ist eine grundlegende Veränderung notwendig. Und diese ist möglich.


Ein gut geeigneter Weg, um die Gegenwart der Monster und der immer wieder in uns auftauchenden unliebsamen Gäste nicht länger als erdrückend zu erleben, ist das ganzheitliche therapeutische Konzept der Integralen Somatischen Psychologie von Raja Selvam, das ich Ihnen auch in meiner Praxis online und in Berlin anbiete. Es arbeitet mit den Emotionen in Körper und Geist und zielt dabei darauf, eine größere emotionale Kapazität zu entwickeln. Durch achtsame und verkörpernde Beschäftigung mit den überwältigenden Gefühlen, werden diese im therapeutischen Prozess so weit (ko)reguliert, dass wir nicht mehr den Eindruck haben, dass sie unsere Lebensenergie blockieren. Es entsteht mehr Raum für sinnliche Wahrnehmung, körperliche Empfindung und geistige Aktivität, wodurch die Energiezustände in uns insgesamt wieder in Bewegung kommen. Die unangenehmen Gefühle müssen dann nicht mehr endlos bleiben, sondern können kommen und gehen, und dadurch anderen Gefühlen mehr Raum lassen. Und dann kann auch die Lebensfreude wieder einziehen.


www.polyvagal-praxis.de/ISP

Nie ohne Gefühle

Menschen sind nie ohne Gefühle, so wie ein Haus niemals ganz leer ist. Ein Haus ist meist voller Leben. Menschen gehen ein und aus, manchmal...