5. Oktober 2025

Nie ohne Gefühle

Nie ohne Gefühle
Menschen sind nie ohne Gefühle, so wie ein Haus niemals ganz leer ist.


Ein Haus ist meist voller Leben. Menschen gehen ein und aus, manchmal auch zu viele. Vielleicht ist es laut, überbordend eingerichtet, aufdringlich dekoriert, vielleicht unaufgeräumt. Es kann verwaist sein, wie ausgestorben oder aufgegeben und den Eindruck machen, nie wirklich bewohnt gewesen zu sein. Und doch ist da immer noch etwas: die alte Tapete oder ein fleckiger Anstrich an der Wand, ein Bodenbelag aus einer anderen Zeit, ein vergessenes Regal mit verstaubten Dingen, ein Müllsack auf der Kellertreppe oder Spinnweben auf dem Dachboden.


Genauso sind wir nie wirklich ohne Gefühle. Irgendein Gefühl ist immer da. Manche Gefühle gefallen uns und wir möchten sie gerne bewahren. Manche finden wir unangenehm: Sie machen uns Angst oder quälen uns und wir wollen sie loswerden. Manchmal bemerken wir Gefühle vielleicht auch gar nicht, weil wir ihnen keine Bedeutung beimessen, uns an sie gewöhnt haben, sie übergehen oder einfach nicht zulassen wollen.


Überprüfen Sie einmal: Welches Gefühl ist da gerade in Ihnen, während Sie diesen Text lesen? Interesse, Zufriedenheit, Ungeduld, Müdigkeit, Leere, Besorgtheit, Einsamkeit, Erfülltheit, Traurigkeit, Begeisterung, Skepsis, Glück, Neugier, Unzufriedenheit oder Langeweile? Irgendein Gefühl - angenehm, unangenehm oder unerheblich - werden Sie bestimmt entdecken, oder?


Gefühle sind Energiezustände in unserem Körper. Unser Autonomes Nervensystem erzeugt sie als Antwort auf seine Bewertung der Situation, in der wir uns gerade befinden. Es bewertet, ob und inwieweit die Situation für uns gefährlich oder sicher ist. Und dann stellt es uns genau die Energie so zur Verfügung, dass wir - nach seiner Vorstellung - angemessen auf die Herausforderung reagieren können. Diese Energiezustände können wir wahrnehmen und wir erleben sie als angenehmes oder unangenehmes Gefühl in unserem Körper. Angenehme Gefühle werden uns dann zu einem anderen Verhalten bewegen als unangenehme. Und wenn wir nicht aufpassen, wenn wir uns weder des Gefühls noch des sich automatisch anbahnenden Verhaltens bewusst sind, kann unser Verhalten recht unüberlegt sein.


Ein Beispiel:

Laute Punkrock-Musik ist in der Wohnung zu hören. Für den 16-jährigen Verursacher ist das in keiner Weise bedrohlich. Im Gegenteil: Er fühlt sich durch die Musik inspiriert und lebendig. Daher wird er auch nichts tun, was die Situation verändert, sondern sie einfach nur genießen wollen. Und das tut er dann auch, ohne weiter darüber nachzudenken.

Der von der Arbeit nach Haus kommende Vater fühlt sich jedoch mit der Musik unwohl: Sein Bedürfnis nach Entspannung ist gefährdet und ein Gefühl von Ärger entsteht. Gleichzeitig wird er einen Impuls verspüren, kämpferisch dafür zu sorgen, dass die Musik ein Ende findet. Vielleicht scheut er aber auch die konfrontative Auseinandersetzung mit seinem Sohn und versucht stattdessen, die laute Musik und seinen Unmut darüber zu ignorieren. Mit der erhofften Entspannung hat das dann wenig zu tun. Anspannung und ein unangenehmes Gefühl von Hilflosigkeit werden in ihm nagen. Würde er sich hingegen für Punkrock-Musik begeistern, wäre ein ganz anderes Verhalten für ihn möglich. Er könnte sich dann nicht nur entspannen, sondern auch gemeinsam mit seinem Sohn eine gute Zeit haben.


Gefühle, die von unserem Autonomen Nervensystem ausgelöst werden, haben also eine maßgebliche Bedeutung für unser Verhalten. Wenn wir nicht aufpassen, bestimmen sie unser Verhalten in einer Weise, die wir, wenn wir nachdenken, gar nicht wollen. Gelingt es uns jedoch, die Reiz-Reaktions-Kette zu unterbrechen, uns stattdessen zu Beobachtern unserer Gefühle zu machen, dann können wir diese an die Hand nehmen und entscheiden, wie wir uns - vielleicht vernünftiger - verhalten wollen, anstatt uns von ihnen an die Hand nehmen zu lassen und zusehen zu müssen, was sie mit uns machen.


Die Veränderung unseres Verhaltens, die Unterbrechung der Reiz-Reaktions-Kette beginnt also mit der Beobachtung unserer Gefühle. Das Beobachten stoppt die Reaktion und ermöglicht statt dessen das Bezugnehmen auf einen Reiz. Wir reagieren nicht mehr nur einfach auf die Welt um uns herum, sondern wir beziehen uns auf sie, nachdem wir uns orientiert haben, was wirklich ist und was wir wirklich tun wollen.



Schöne Monster


Tsoknyi Rinpoche (www.lionsroar.com) nennt die Gefühle, die uns das Leben schwer machen und von denen wir uns wünschen, dass sie einfach verschwinden, Schöne Monster. Sie sind Monster, weil sie uns quälen und ihre Energie für uns und andere Menschen zu einer zerstörerischen Energie werden kann. Gleichzeitig haben sie eine verborgene Schönheit, die sie uns aber erst dann offenbaren, wenn wir den Mut haben, ihnen mit Achtsamkeit und Offenheit zu begegnen.


Schöne Monster

Die Schönen Monster kommen aus einer vergangenen Zeit, in der sie uns in einer für uns bedrohlichen Situation beschützen wollten. Und weil ihnen das dort und damals nicht hinlänglich gelungen ist, kommen sie immer wieder, wenn etwas im Hier und Jetzt sie an die Situation im Dort und Damals erinnert. Wieder und wieder versuchen sie so, in uns ein Verhalten auszulösen, mit dem wir die Bedrohung hoffentlich nun endlich erfolgreich abwehren können.


Dabei übersehen die Schönen Monster, dass wir uns aktuell gar nicht in der großen Gefahr des Dort und Damals befinden und dass für die gegenwärtige Situation ein anderes Verhalten sehr wahrscheinlich  sinnvoller sein könnte. Sind sie aber erst einmal aufgetaucht, werden sie zu der Brille, durch die wir die Welt und uns selbst nur noch verzerrt sehen können. Heißen wir sie jedoch willkommen und wenden wir uns ihnen mit Interesse zu, werden sie uns erzählen, woher sie kommen, wobei sie uns helfen wollen und was notwendig ist, damit sie und auch wir zur Ruhe kommen können. Und dann, sagt Tsoknyi Rinpoche, verwandeln sich unseren Schönen Monstern zu unseren Verbündeten, weil wir verstehen, dass sie zu unserer seelischen Gesundheit beitragen wollen und wir gemeinsam mit ihnen neue Weg durch das Leben finden können.


Das Gasthaus


Schon im 13. Jahrhundert beschäftigte sich der persische Mystiker Rumi in einem Gedicht mit der Frage, wie wir mit den Gefühlen umgehen können, die uns immer wieder bedrängen. Er verglich dabei den Menschen mit einem Gasthaus, in das immer wieder überraschend unerwartet Gefühle einkehren und sich breitmachen. Sein Rat für uns ist es, alle Gefühle willkommen zu heißen und ihnen mit Offenheit zu begegnen, da sie uns etwas Bedeutsames über uns selbst offenbaren können, das wir ohne sie vielleicht gar nicht entdecken können.


Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.

Jeden Morgen ein neuer Gast.

Freude, Kummer und Niedertracht.

Auch ein kurzer Moment Achtsamkeit

kommt als unerwarteter Gast.


Heiße alle willkommen und sei ihnen Gastgeber.

Selbst wenn sie ein Haufen Sorgen sind,

die brutal alle Möbel aus dem Haus werfen.

Egal. Behandle jeden Gast respektvoll.

Vielleicht schafft er Raum für ganz neue Freuden.


Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Boshaftigkeit -

öffne ihnen lachend die Tür

und lade sie ein, dein Gast zu sein.


Sei dankbar für jeden, der kommt.

Denn alle sind zu deiner Führung geschickt worden

aus einer anderen Welt.



Das Grand Hotel der Gefühle


Das Grand Hotel der Gefühle
Können Sie sich vorstellen, wie es in einem Hotel zugeht, in dem als einzige Gäste die unterschiedlichsten Gefühle für kurze oder auch längere Zeit logieren? In ihrem poetischen Bilderbuch Das Grand Hotel der Gefühle lässt Lidia Brankovic die Hoteldirektorin aus ihrem Alltag mit all den manchmal auch ein bisschen komplizierten Gästen erzählen:


„Gefühle gibt es in allen Formen und Größen.

Manche sind riesig, mache sind klein.

Manche Gefühle sind sogar unsichtbar.

Man weiß nicht einmal, dass sie da sind,

bis das Licht sie zufällig einfängt.

Ich versuche, mir für alle Gefühle genügend Zeit zu nehmen,

um herauszufinden, was sie brauchen.

Das ist gar nicht immer so einfach,

gerade wenn im Hotel viel los ist.“


Ob Lidia Brankovic das Gedicht von Rumi kannte, als sie ihre Geschichte zeichnerisch zu Papier brachte, ist nicht klar. Ihr wunderschönes Bilderbuch ist jedoch bestens dafür geeignet, auch schon mit kleinen Kindern über Gefühle und den Umgang mit ihnen ins Gespräch zu kommen. So können sie lernen, dass Gefühle wie Gäste in einem Hotel immer wieder einmal kommen und gehen. Und die Kinder können darüber nachdenken, was sie machen können, wenn und solange die angenehmen und die unangenehmen Gefühle da sind.


Integrale Somatische Psychologie


Manchmal sind gerade die unangenehmen Gefühle übermäßig intensiv und hartnäckig. Sie kommen viel zu oft und bleiben viel zu lange. Und sie lassen keinen Platz für andere Gefühle, die wir vielleicht auch mal gerne zu Gast bei uns hätten. Wenn Gefühle dann anfangen, uns zu quälen, und das durch sie ausgelöste Leid immer weniger oder vielleicht auch gar nicht mehr auszuhalten ist, wenn damit einhergehend die Verzweiflung wächst, dann ist eine grundlegende Veränderung notwendig. Und diese ist möglich.


Ein gut geeigneter Weg, um die Gegenwart der Monster und der immer wieder in uns auftauchenden unliebsamen Gäste nicht länger als erdrückend zu erleben, ist das ganzheitliche therapeutische Konzept der Integralen Somatischen Psychologie von Raja Selvam, das ich Ihnen auch in meiner Praxis online und in Berlin anbiete. Es arbeitet mit den Emotionen in Körper und Geist und zielt dabei darauf, eine größere emotionale Kapazität zu entwickeln. Durch achtsame und verkörpernde Beschäftigung mit den überwältigenden Gefühlen, werden diese im therapeutischen Prozess so weit (ko)reguliert, dass wir nicht mehr den Eindruck haben, dass sie unsere Lebensenergie blockieren. Es entsteht mehr Raum für sinnliche Wahrnehmung, körperliche Empfindung und geistige Aktivität, wodurch die Energiezustände in uns insgesamt wieder in Bewegung kommen. Die unangenehmen Gefühle müssen dann nicht mehr endlos bleiben, sondern können kommen und gehen, und dadurch anderen Gefühlen mehr Raum lassen. Und dann kann auch die Lebensfreude wieder einziehen.


www.polyvagal-praxis.de/ISP

10. Juni 2023

Was bei akuter Angst, Verzweiflung oder Panik hilft

Wenn Aufregung, Wut, Angst, Verzweiflung oder Panik Sie oder einen Menschen in Ihrem Umfeld erfasst, können die folgenden Übungen helfen:

1. Atmen Sie mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit mehrere Male lang und langsam aus. Auf diese Weise stimulieren Sie den für Ruhe und Entspannung zuständigen Vagusnerv.

2. Spüren Sie im Sitzen oder Stehen Ihre Füße auf dem Boden. Dadurch entsteht ein beruhigendes Gefühl der Erdung und des Getragenseins.

3. Nehmen Sie mit leichten seitlichen Drehungen des Kopfes wahr, wo Sie gerade sind. Durch diese Orientierung im Hier und Jetzt können die Gedanken zur Ruhe kommen.

4. Spannen Sie Ihre Hände zu Fäusten an und lösen Sie die Spannung nach einigen Sekunden. Das Erleben von Entspannung im Körper kann zu einer Entspannung im Geist führen.

5. Werden Sie zum Beobachter Ihrer Emotionen im Körper: Mein Körper hat Angst, ich nicht. Das schafft ein wenig Abstand zu den Emotionen und alles erscheint nicht mehr so schlimm.

6. Beschäftigen Sie Ihren Geist mit neutralen Aufgaben: Finden Sie um Beispiel alles Blaue, Runde oder Hölzerne in Ihrem Umfeld. Wenn der Geist beschäftigt ist, kann er nicht gleichzeitig den Emotionen im Körper folgen.

7. Nehmen Sie Kontakt auf zu unaufgeregten Menschen, die Sie kennen. Menschen beruhigen einfach nur durch ihre Präsenz und das entstehende Gefühl von Verbundenheit.

8. Nehmen Sie sich sanft und liebevoll in den Arm. Liebevolle Berührungen beruhigen Körper und Geist.

Praktizieren Sie diese Übungen immer wieder auch in Situationen, in denen die Aufregung klein ist oder es Ihnen sogar
gut geht. Je selbstverständlicher Ihnen die Übungen in ruhigen Situationen gelingen, desto leichter werden sie Ihnen in schwierigen Situationen hilfreich zu Verfügung stehen.

27. Februar 2023

Das B3-Verfahren: Beruhigen - Binden - Besprechen

Wenn Kinder wütend, verzweifelt oder traurig sind, wenn ihre Emotionen hohe Wellen schlagen, dann fühlen Erwachsene sich oft herausgefordert wie ein Kapitän im Sturm, der Schiff und Mannschaft heil durch die Gefahr bringen will.


Doch wie kann das gut gelingen?


Ein wirkungsvolles Mittel, um in emotional schwierigen Situation mit Kindern Lösungen für Unstimmigkeiten zu finden, ist

Das B3-Verfahren

Beruhigen - Binden - Besprechen


(als Video auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=qKQ9W2iXcsY)


Häufig jedoch beginnen Erwachsene, wenn Kinder in Gesprächen oder Auseinandersetzungen starke Emotionen zeigen, mit dem dritten B, dem Besprechen. Sie versuchen, mit dem Kind ruhig und vernünftig zu reden. Mit manchmal vielen Worten wollen sie herauszufinden, 

was geschehen ist. Sie äußern ihre Gedanken und geben Ratschläge.


„Erzähl mal, was los ist.“

„Wir können doch in Ruhe über alles reden.“

„Was ist denn passiert?“

„Du musst das auch mal so sehen!“


Nicht selten kommen Erwachsene dann zu der Einschätzung, dass die momentane Emotion des Kindesund das damit verbundene Verhalten für die Situation nicht angemessen sind. Und mit zunehmender Gereiztheit ermahnen sie das Kind dazu,

sich anders zu verhalten.


„Hier wird nicht rumgeschrien!“

„Beruhige dich mal!“


Doch alles Reden der Erwachsenen hilft angesichts der großen Emotionen wenig. Weder beruhigt sich das aufgewühlte Kind durch das Reden, noch hört es wirklich zu, was die Erwachsenen sagen. Und alle Ratschläge oder Ermahnungen erreichen das Kind nicht wirklich.


„Du hast keinen Grund, wütend zu sein!“

„Lass jetzt dieses kindische Verhalten!“


Und am Ende ist auch noch der Erwachsene emotional aufgebracht, verärgert, genervt oder frustriert. Er schimpft, wird laut und droht vielleicht sogar mit Konsequenzen, die eigentlich nichts anderes als Strafen sind.


„Hör jetzt endlich auf mit dem Theater.“

„Sei doch wenigstens mal ein bisschen vernünftig.“

„Wenn du jetzt nicht aufhörst, dann fällt das Vorlesen heute Abend aus.“


Damit ist dann die Situation völlig verfahren 

und eine Lösung kaum noch in Sicht.


„Schluss jetzt! Ab in dein Zimmer!“


Natürlich ist es grundsätzlich eine gute Idee, in Situationen, in den es Unstimmigkeiten gibt, mit Kindern zu sprechen, um eine gemeinsame Lösungen zu finden. 


„Lass uns eine Lösung finden …“


Dies ist jedoch nicht möglich, wenn Kinder emotional aufgebracht sind, wenn ihr Autonomes Nervensystem die Situation als unsicher oder vielleicht sogar als gefährlich wahrgenommen und alle körperlichen Systeme und den Energiefluss im Kind so eingestellt hat, dass nur noch Abwehr und Verteidigung, Kampf, Flucht oder Totstellen möglich sind. Und diese Verhaltensweisen sind mit großen Emotionen gekoppelt: Wut, Angst, Traurigkeit und Verzweiflung.


Ein kindliches Nervensystem, das sich in solch einem Zustand befindet, ist nicht aufnahmefähig für kluge Ratschläge. Es ist überlastet und aus der Balance geraten. Und das Kind ist dann auch nicht mehr in der Lage, sich und sein Nervensystem alleine so zu regulieren, dass es wieder Zugang zu seinem Stirnhirn findet, dem Bereich seines zentralen Nervensystems, der für das Lösen von Problemen und das Vernünftigsein zuständig ist.


Wenn also in emotional aufgeladenen Situationen Erwachsene gemeinsam mit dem Kind eine Lösung finden wollen, dann ist es unbedingt erforderlich, dass dem emotional aufgebrachten Kind zunächst bei der Regulation seines Nervensystems geholfen wird. Und das geschieht durch die Koregulation des Erwachsenen.


Wenn das Kind die Situation dann wieder als sicherer wahrnimmt, das Nervensystem mehr und mehr in eine Balance kommt und die Emotionen sich beruhigen, dann kann das Stirnhirn Schritt für Schritt wieder zugeschaltet werden. Und damit wird ein Besprechen der Situation und das Finden einer Lösung überhaupt erst wieder möglich.


Der Weg zu einer wirklichen Lösung in emotional schwierigen Situationen führt also unbedingt über die Koregulation, über die Beruhigung des Nervensystems

und das Wecken eines Gefühls von Verbundenheit.

Er besteht also aus drei Schritten - Beruhigen, Binden, Besprechen -, die in genau dieser Reihenfolge ausgeführt werden sollten. Ich nenne es das B3-Verfahren. Und das geht so:


1. Beruhigen


Wenn das Kind emotional aufgebracht ist, sein Autonomes Nervensystem also überlastet ist, dann tun Sie für den Moment am besten nur das, was das Gefühl der Sicherheit bei Ihrem Kind stärkt, und nichts, was das Gefühl der Unsicherheit und Gefahr befeuert. 

Bedrängen Sie das Kind also nicht, weder mit Worten und Aufforderungen, noch körperlich durch Blicke, Nähe oder Berührungen.Tun Sie statt dessen alles, was das Gefühl der Sicherheit beim Kind stärkt.


„Lass mich in Ruhe!“ - Okay.

„Geh aus meinem Zimmer!“ - „Wenn du mich jetzt hier nicht haben möchtest, 

gehe ich so lange ins Arbeitszimmer. Okay?

„Nein!“ -„Mhm …“


Achten Sie auf Grenzen, die das Kind für sich einfordert.

Geben Sie dem Kind soweit es geht den eingeforderten Raum und die eingeforderte Zeit. 


„Fass. mich. nicht. an!“ - „Ja …“


Bleiben Sie dabei unaufgeregt und freundlich, damit das Kind Sie als ungefährlich wahrnehmen kann und damit sich sein Autonomes Nervensystem auf die Energie Ihres Nervensystems einschwingen kann.


Natürlich sollten Sie bei alldem nicht aus dem Auge verlieren, ob das Kind sich durch sein Verhalten akut in Gefahr bringt, und dies dann gegebenenfalls aktiv verhindern. 

Ein Kind, das in seiner Wut auf die Straße rennen will, müssen Sie festhalten - auch wenn es tobend und schreiend das nicht will. Sobald die akute Gefahr dann aber vorbei ist, sollten Sie dem Kind möglichst schnell den geforderten Raum wieder einräumen.


2. Binden


Spätestens wenn sich dann das Kind und sein Nervensystem ein bisschen beruhigt haben, können Sie damit beginnen, ein Gefühl der Verbundenheit zwischen Ihnen und Ihrem Kind lebendig werden zu lassen.

Zeigen Sie durch Ihre ganze Präsenz, dass Sie für das emotional aufgebrachte Kind auf jeden Fall da sein wollen, dass Sie ihm Sicherheit, Schutz und Geborgenheit bieten möchten.


„Ist es okay, wenn ich einfach nur hier bei dir bleibe?“

„Darf ich dich ein wenig in den Arm nehmen?"

„Ich bin in der Küche. Sag Bescheid, wenn du mich brauchst.“


Bringen Sie durch Ihre Mimik und ihre Stimme zum Ausdruck, dass Sie anerkennen, dass die Situation tatsächlich schwierig ist und dass Sie zu einer gemeinsamen Lösung beitragen wollen.


„Es ist in Ordnung, dass es gerade schwierig ist."

„Wir finden bestimmt eine Lösung.“


Beachten Sie dabei weiterhin sorgfältig, wieviel Nähe Ihr Kind zulässtund welche Grenzen es Ihnen setzt. Respektieren Sie beides einfühlsam. Denn wenn Sie die Grenzen Ihres Kindes überschreiten, wird sein Autonomes Nervensystem Kampf und Flucht oder sogar Totstellen auslösen.

Versuchen Sie, auf jeden Fall in liebevollem Kontakt zu Ihrem Kind zu bleiben, das einfach nur völlig unterreguliert war und nun zurück zu einer Balance im Nervensystem findet.


„Ich bin da für dich.“


Alles, was für Ihr Kind das Gefühl der Verbundenheit stärkt, sollten Sie tun; und alles, was das Gefühl der Verbundenheit schwächt,sollten Sie unterlassen.


Wenn das Kind Sie dann als Partner für eine gemeinsame Lösung wieder erkennt und in Ihnen keinen Gegner mehr sieht, erst dann können Sie zum dritten Schritt wechseln: dem Besprechen


3. Besprechen


Wenn das Kind beruhigt ist und sich verbunden mit Ihnen fühlt,dann kann es sein, dass es gar kein Bedürfnis mehr hat, über das, was war, zu sprechen. Denn alles ist ja Gott sei Dank wieder gut.


Besteht aber weiterhin eine Unstimmigkeit oder eine Schwierigkeit, egal ob nur bei Ihnen oder Ihrem Kind oder sogar bei beiden, dann ist nun die Zeit, über diese Unstimmigkeit zu sprechen. Dabei ist es das Ziel,  gemeinsam und gleichwürdig nach einer Lösung zu suchen.

Gleichwürdig bedeutet, dass beide, das Kind und der Erwachsene, mit ihren jeweiligen Gedanken und Wünschen, Bedürfnissen und Besorgnissen gehört und gegenseitig ernstgenommen werden.


Als Erwachsener sollten Sie dabei den ersten Schritt tun und das Kind dazu einladen, Ihnen all seine Gedanken, seine Wünsche, Bedürfnisse und Besorgnisse zu der aktuellen Schwierigkeit mitzuteilen.

Ihre Aufgabe ist zunächst nur, aktiv und mit Mitgefühl zuzuhören. Kommentieren und bewerten Sie nicht, was Ihr Kind sagt. Wenn Sie etwas nicht verstehen, fragen Sie behutsam nach. 

Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind sich ernst genommen fühlt. Dies wird das Gefühl von Sicherheit und die Ruhe im Nervensystem verstärken.


„Ich höre deine Sorgen.“

„Kannst du mir noch ein wenig mehr dazu erzählen?“

„Gut, dass du mir sagst, was für dich wichtig ist.“


Im Anschluss daran, wenn Ihr Kind wirklich alles gesagt hat, was ihm wichtig ist, können Sie es bitten, nun Ihnen und Ihren Gedanken, Ihren Wünschen, Ihren Bedürfnissen und Besorgnissen zuzuhören.


„Ich sehe dich.“

„Sieh nun auch mich.“


Der Raum für eine Lösung liegt anschließend klar und offen zwischen Ihnen und Ihrem Kind da. Er ist umrissen durch die jeweiligen mehr oder weniger lebenswichtigen Bedürfnisse und Besorgnisse und ausgeschmückt durch individuelle Wünsche.


Der gemeinsame Weg zu einer Lösung besteht nun darin, gegenseitig Bedürfnisse anzuerkennen und zu befriedigen, Besorgnisse auszuräumen und Wünsche soweit es geht zu erfüllen. Es geht also darum, eine für beide befriedigende und realistische Lösung für die aufgetretene Schwierigkeit zu finden.


Es ist dabei nicht Ihre Aufgabe als Erwachsener eine Lösung aus irgendeinem Hut hervorzuzaubern. Denn auch Sie können eine Lösung erst im Gespräch mit Ihrem Kind finden, weil Ihre Lösung nicht seine Lösung ist. Also fragen Sie Ihr Kind zunächst, was seine Idee ist. Und lassen Sie sich wirklich Zeit dafür.


„Hast du eine Idee, wie wir das lösen können?“


Geben Sie sich Mühe, die Vorschläge Ihres Kindes zu verstehen. Prüfen Sie für sich, welcher der Vorschläge auch für Sie eine Lösung sein könnte.


„Wie könnte eine Lösung aussehen?“

„Das ist keine schlechte Idee von dir.“


Und dann können Sie ruhig und mit Bedacht natürlich auch Ihre eigenen Vorschläge für eine Lösung vorstellen.


„Ich habe folgende Idee. Was hältst du davon?“


Indem Sie gemeinsam mit dem Kind Ideen gedanklich ausprobieren und dadurch Schritt für Schritt einer Lösung näher kommen, wird das Kind erleben, dass es Teil der Lösung ist und nicht das Problem und dass seine Bedürfnisse und Besorgnisse tatsächlich ernst genommen werden.


Kinder, die auf diese Weise Gleichwürdigkeit erfahren, werden dann auch die Bedürfnisse und Besorgnisse anderer immer besser berücksichtigen können.


Eine wirkliche Lösung ist dabei erst dann gefunden, wenn beide mit der konkreten Idee einer Lösung zufrieden sind und das Ergebnis auch als realistisch betrachten.


„Ja, das ist gut!“ - „Ja, so können wir das machen.“


Lösungen brauchen Zeit und manchmal mehrere Anläufe, denn sie müssen sich immer erst im Praxis-Test bewähren. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich im Alltag herausstellt, dass die zunächst gefundene Lösung für Sie oder Ihr Kind doch nicht richtig passt, dass es doch noch eine Unstimmigkeit gibt. Dann muss gemeinsam nachgebessert und eine neue, bessere Lösung gefunden werden.


„Das bekommen wir hin.“ - „Na klar!“


Je öfter Sie das B3-Verfahren und das Finden einer Lösung mit Ihrem Kind praktizieren, desto sicherer, erfolgreicher und schneller werden nicht nur Sie, sondern auch Ihr Kind darin werden, statt sich endlos zu streiten, Lösungen in emotional schwierige Situationen zu finden.



Nie ohne Gefühle

Menschen sind nie ohne Gefühle, so wie ein Haus niemals ganz leer ist. Ein Haus ist meist voller Leben. Menschen gehen ein und aus, manchmal...