14. Juni 2020

Das Erleben von Sicherheit

und unsere körperlichen Aktivierungsmuster 

 


Bin ich sicher?


Mit dieser Frage ist unser autonomes Nervensystem rund um die Uhr beschäftigt. Egal wo wir sind, wohin wir kommen, wem wir begegnen oder was wir vorhaben: Unser autonomes Nervensystem prüft in jedem Fall, und zwar unterhalb unserer bewussten Wahrnehmung, ob wir im Hier und Jetzt sicher sind. Denn nur wenn wir sicher sind, ist auch unser Überleben gesichert. Und genau das ist eine entscheidende Aufgabe unseres autonomen Nervensystems: unser Überleben zu sichern.


Bin ich sicher?


Je nachdem, zu welcher Einschätzung der aktuellen Sicherheitslage oder Gefahrensituationen unser autonomes Nervensystem kommt, bereitet es unseren Körper mit all seinen Sinnesorganen, den Muskeln, Herz und Lunge, sowie den Verdauungsorganen für eine angemessene, das Überleben sichernde Reaktion vor. Entsprechend seiner Einschätzung, wie groß oder klein die aktuelle Sicherheit, Gefahr oder Bedrohung ist, aktiviert oder beruhigt das autonome Nervensystem Bereiche und Organe unseres Körpers. Es entscheidet, was im Körper aktiviert werden muss oder heruntergefahren werden kann, um einerseits der Gefahr erfolgreich begegnen zu können oder andererseits Situationen der Sicherheit für Wachstum und Regeneration zu nutzen. Dies habe ich ausführlich auf der Grundlage der Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges in dem Video „Der Polyvagal-Kreis“ erklärt.


Die verschiedenen, vom autonomen Nervensystem eingeleiteten Aktivierungsmuster in unserem Körper können wir tatsächlich spüren:

  • Wir spüren eine Leichtigkeit und angenehme Lebendigkeit im Körper, wenn wir uns nicht bedroht, sondern in sicherer Verbundenheit mit Anderen befinden. 
  • Nimmt unser Erleben von Sicherheit weiter zu und gibt es für uns nichts zu tun, weil im Moment alles, so wie es ist, gut ist, entsteht ein körperliches Gefühl großer innerer Ruhe, das für unsere Regeneration sehr wichtig ist.
  • Treffen wir auf unbekannte Menschen, herausfordernde Aufgaben oder Situationen, wächst das Erleben von Aufregung und Unsicherheit und führt automatisch zu einer Zunahme der Spannung im Körper. So lange dabei noch ein Gefühl der Sicherheit überwiegt, kann diese Spannung als angenehm und belebend wahrgenommen werden.
  • Wenn dann das autonome Erleben von Gefahr und Bedrohung weiter zunimmt, nimmt auch die Spannung im Köper zu und ein Gefühl von unangenehmer Anspannung und Stress breitet sich aus. Hält der Stress an, ist dies äußerst ungesund für alle körperlichen Systeme.
  • Und wenn der Stress in den körperlichen Systemen zu groß wird oder zu lange anhält, kann das autonome Nervensystem als Schutzmaßnahme unsere Körpersysteme radikal herunterfahren, wodurch es zu einem Gefühl der Energielosigkeit und Lähmung kommt.

Bin ich sicher?


Das Erleben von Sicherheit entsteht, wenn unsere existenziellen menschlichen Bedürfnisse, die sich auf unser Überleben beziehen, befriedigt sind. Denn wenn diese Bedürfnisse auf Dauer nicht befriedigt werden, werden wir auch nicht überleben.


Es lassen sich theoretisch vier Dimensionen von Bedürfnissen unterscheiden, die unser autonomes Nervensystem bei seinem Prüfvorgang berücksichtigt. Diese vier Dimensionen sind weder strikt hierarchisch noch als von einander völlig unabhängig zu verstehen.


Eine erste Dimension sind die basalen körperlichen Bedürfnisse:

Jeder Mensch braucht Nahrung, Körperkontakt und auch Ruhe. Er ist bemüht, körperliche Schmerzen zu vermeiden und strebt nach körperlicher Unversehrtheit. Ein Zuviel an Körperkontakt kann zum Beispiel als gefährlich oder bedrohlich erlebt werden und zu Stress oder auch Lähmung führen. Genügend Nahrung erzeugt ein Gefühl von Sicherheit und bringt Ruhe in den Körper.


Die zweite Dimension sind die emotional-sozialen Bedürfnisse:

Menschen sind Lebewesen, die auf soziales Miteinander angewiesen sind; alleine können wir nur schwer oder auch gar nicht überleben. Wir brauchen nicht nur Schutz vor körperlichen Verletzungen, sondern auch emotionale Geborgenheit und soziale Verbundenheit. Wir wollen Teil einer Gemeinschaft sein und ein Gefühl von Zugehörigkeit haben. Soziale Isolation oder Ausgrenzung zum Beispiel in Form von Mobbing befördern das Erleben von Gefahr und Bedrohung und führen zu körperlicher Anspannung und Stress. Erscheint die Situation uns als aussichtslos, kommt es zur Erstarrung, weil alles andere keine Sinn mehr zu machen scheint. Ein liebevolles Miteinander erleben wir hingegen als sicher. Unser Körper fühlt sich dann lebendig und entspannt an.


Eine dritte Dimension sind die materiellen Bedürfnisse: 

Wir haben ein Bedürfnis nach Wohnraum als den Ort, wo wir geschützt und in Ruhe sein und wo wir uns zum Schlafen niederlassen können. Wir brauchen Kleidung zum Schutz vor Wind und Wetter und auch als Schmuck, der unseren Wert und unsere Bedeutung unterstreicht. Und wir brauchen Werkzeuge sowie Mittel und Ressourcen, die unseren allgemeinen Lebensunterhalt sichern - sowohl heute als auch in näherer Zukunft. Wenn wir diese Bedürfnisse als ausreichend befriedigt erleben, kann unser Nervensystem und unser Körper zur Ruhe kommen. Erleben wir unseren Wohnraum oder Lebensunterhalt jedoch als gefährdet, werden wir unruhig werden oder auch in Stress geraten.


Die vierte Dimension sind die mentalen Bedürfnisse: 

Wir wollen Anerkennung bekommen für das, was und wer wir sind, für unsere Ideen und Werte, unsere Pläne und Visionen und für das, was wir glauben. Wir wollen, dass uns Respekt für unseren Raum und unsere Grenzen entgegengebracht wird. Wir haben ein Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit. Wir wollen entscheiden können, was wir wann und mit wem tun oder lassen. Wenn wir diesen unseren mentalen Raum als bedroht erleben, werden wir in Stress geraten; wenn wir jedoch erleben, dass unser Raum respektiert und anerkannt wird, können wir ihn mit körperlicher Lebendigkeit und der notwendigen Spannung erleben und gestalten.


Bin ich sicher?


Unser autonomes Nervensystem prüft unsere Sicherheit simultan für alle vier Dimensionen von Bedürfnissen, die jederzeit und auch mit zeitlicher Überschneidung akut werden können. Wir haben nicht nur ein Bedürfnis nach Nahrung und angemessener Kleidung, sondern möglicherweise gleichzeitig auch nach Respekt und Anerkennung. Wir sorgen uns sowohl um unseren Lebensunterhalt als auch um Gemeinschaft und Ruhe. Wir wollen Geborgenheit, einen ordentlichen Wohnraum und Selbstbestimmtheit. Und nicht zuletzt sehnen wir uns nach Körperkontakt.


All diese Bedürfnisse werden wir in den unterschiedlichen Lebenssituationen, in denen wir uns jeden Tag befinden, in unterschiedlicher Weise mehr oder weniger befriedigen können oder als befriedigt erleben. Wir erleben deshalb auch Sicherheit, Gefahr und Bedrohung in ständigem Wechsel und vor allen Dingen auch in Abhängigkeit davon, welche Dimension von Bedürfnissen für uns gerade besondere Bedeutung hat. Und dementsprechend verändern sich die vom autonomen Nervensystem herbeigeführten Aktivierungsmuster in unserem Körper fortlaufend: Unser Körper befindet sich wechselnd in einem Zustand der Ruhe, der Lebendigkeit, der Spannung, des Stresses oder der Lähmung. Und da dieser körperliche Zustand bestimmenden Einfluss darauf, wie wir agieren und wie wir in Kontakt mit unseren Mitmenschen sind, sollten wir darauf achten, nicht zu oft aus einem Erleben von Gefahr und Bedrohung heraus in einen körperlichen Zustand von Stress und Lähmung zu kommen. Denn in diesem Zustand können wir weder in einem guten und uns nährenden Kontakt mit unseren Mitmenschen sein noch kann unser Körper auf Dauer gesund bleiben.


Bin ich sicher?


Wir müssen die Beantwortung dieser Frage nicht in jedem Fall unserem autonomen Nervensystem überlassen - vor allen Dingen nicht, wenn wir nicht mehr zufrieden sind damit, wie unser autonomes Nervensystem diese Aufgabe momentan für uns erledigt. Unser autonomes Nervensystem wird sich jedoch solange für diese Frage zuständig fühlen und unseren Körper autonom aktivieren, solange wir uns nicht bewusst einmischen. Dieses Einmischen ist jedoch gar nicht so einfach, weil unser autonomes Nervensystem einfach sehr schnell, hochsensibel und entschlossen auf Situationen und Begegnungen reagiert. Unsere bewusste Wahrnehmung bleibt dahinter oftmals zurück.


Wir können aber lernen, durch Achtsamkeit unsere problematischen körperlichen Aktivierungsmuster - wachsende Spannung, Stress und Lähmung - rechtzeitig zu erkennen und sie auch anzuhalten, bevor sie uns vollständig in ihren Griff nehmen. Denn nur dann können wir die Situation selbst und bewusst wahrnehmen, neu als sicher einschätzen und damit unsere Energie wieder in die gesunden Bahnen von Lebendigkeit und Ruhe fließen lassen.

  • Wir können durch Achtsamkeit für uns selbst herausfinden, welche Bedürfnisse im Moment für uns erfüllt oder nicht erfüllt sind, und verstehen, wie und warum unser autonomes Nervensystem unseren Körper in bestimmter Weise aktiviert.
  • Wir können lernen, zwischen grundlegenden Bedürfnissen sowie Vorstellungen, Begierden und Wünschen zu unterscheiden, die für uns scheinbar unverzichtbar geworden sind und uns wie ein Bedürfnis erscheinen.
  • Wir können überlegen, inwieweit wir unsere Wünsche und Bedürfnisse auf ein realistisches, sinnvolles oder auch nur wirklich notwendiges Maß beschränken wollen.
  • Wir können lernen, uns wieder mehr um die für unsere Gesundheit so wichtigen Bedürfnisse nach Geborgenheit, tatsächlicher Gemeinschaft und Ruhe zu kümmern.
  • Und wir können zwischen unserer Bedürfnislage im Hier und Jetzt und den unbefriedigten Bedürfnissen aus einer vergangenen Zeit, dem Dort und Damals zu unterscheiden lernen. 

Bin ich sicher?


Wir haben es in der Hand, die Beantwortung dieser Frage selbst und bewusst zu übernehmen. Das ist jedoch nicht immer leicht und sofort möglich, weil die dafür notwendige Achtsamkeit Übung braucht. Für die meisten von uns kann das auch ein längerer Weg sein. Aber ein erster Schritt auf diesem Weg ist jederzeit möglich.

Und je öfter wir diesen Weg der Achtsamkeit für uns selbst gehen und die Situation im Hier und Jetzt sowie die Befriedigung unserer tatsächlichen Bedürfnisse als sicher erkennen, desto mehr wird auch unser autonomes Nervensystem wieder neu lernen, Sicherheit zu erleben.

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