6. Oktober 2019

Kinder mit starkem Willen



Insbesondere Kinder mit einem starken Willen brauchen vor allen Dingen eins: starke Erwachsene. Sie brauchen Eltern, die mit Neugier, Freude und Freundlichkeit, mit Klarheit und Ruhe sowie mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit immer wieder den Weg suchen, auf dem die Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte ihrer Kinder und ihre eigenen Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte in eine Balance kommen.
Diesen Weg zu finden, ist keine einfache Aufgabe, die einmal erledigt ist, sondern die sich fortwährend neu stellt, ständig verändert und immer eine Aufgabe bleibt.
Denn wenn in einer Beziehung der Mensch - egal ob Kind oder Erwachsener - hinsichtlich seiner Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte immer wieder zu kurz kommt, erwachen Ärger, Wut, Kummer, Verzweiflung oder Resignation. Diese emotionalen Zustände, die natürlich nicht auf entspannte soziale Interaktion abzielen, sondern auf die Verteidigung der eigenen körperlichen Unversehrtheit („Bleib mir bloß vom Leib!“) und psychischen Sicherheit („Ich mach, was ich will!“) führen dann zu all dem schwierigen Verhalten, das das Miteinander in der Familie so belastet.

Wenn Sie also ein Kind mit starkem Willen haben, ein Kind, das nicht einfach das tut, was Sie wollen, sondern sehr massiv - und in Ihren Augen vielleicht auf unangemessene Weise - betont, was es selber will, dann sollten Sie zunächst einmal bedenken, dass es dies nicht tut, um Ihnen das Leben schwer zu machen, sondern um sich ein Gefühl der Sicherheit zu verschaffen, indem es nicht einfach folgt, sondern sich für sich entscheidet. Und dann sollten Sie in aller Ruhe einige Dinge bedenken, bevor Sie irgendetwas Unüberlegtes tun.

Erster Schritt: Wer bin ich?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass Sie sich als Elternteil Klarheit über sich selbst verschaffen: Wie gut kenne ich mich, und wie wichtig und ernst nehme ich mich an welcher Stelle? Je klarer Sie sind, desto standfester können Sie handeln. Denn auch das, was sie nicht klar sehen, wirkt sich im Untergrund Ihres Bewusstseins auf Ihr Sein und Ihr Handeln aus.
Darum: Was sind meine Bedürfnisse (z.B. Verbundenheit, mehr Zeit für mich, mehr Schlaf), meine Interessen (z. B. Ordnung, mal wieder ins Kino oder Museum gehen), meine Ziele und Werte (z. B. empathisches Miteinander, Respekt, nachhaltiges Konsumieren)? Welche kann ich momentan für mich befriedigen oder erreichen? Wo muss ich - wem zuliebe? - meine Interessen zügeln oder meine Ziele relativieren? Und an welchen Punkten bin ich dazu auch wirklich bereit? An welchen Stellen bin ich unzufrieden?
Wie gehe ich mit Unzufriedenheit, Frustration und den daraus resultierenden schwierigen Gefühlen um? Wie gut kann ich mich regulieren und entspannen? Was tue ich, um auch in schwierigen Situationen ein liebevolles Herz und einen klaren Kopf zu behalten?
Diese Fragen werden sich nicht alle auf einmal und ein für alle Mal klären lassen; das Finden der Antworten wird ein Prozess sein.

Zweiter Schritt: Wer ist mein Kind?
Entwickeln Sie eine neugierige und gleichzeitig respektvolle Haltung, aus der heraus Sie immer wieder herausfinden wollen, wer Ihr Kind eigentlich ist. Dies ist notwendig, damit Sie besser wissen, mit wem Sie es tatsächlich zu tun haben. Denn nur wenn Sie das wissen, können Sie angemessen auf Ihr Kind eingehen. Andernfalls greifen alle Ihre Bemühungen mit großer Wahrscheinlichkeit ins Leere.
Darum: Welche Bedürfnisse, Interessen, Ziele und Werte hat mein Kind? Was sind möglicherweise Gründe für sein momentanes Verhalten oder seine momentanen Interessen? Versuchen Sie die unter der Oberfläche verborgenen Ursachen und Gründe zu entdecken.
Welches Lebensgefühl herrscht bei meinem Kind vor: Zufriedenheit? Resignation? Euphorie? Unsicherheit? Traurigkeit? Gibt es dabei Unterschiede je nach Situation?
Wie gut gelingt ihm schon die Impulskontrolle, die Steuerung der Aufmerksamkeit und die Handlungsplanung. Wie gut kann es schon seine Emotionen regulieren?
Auch hier werden Sie nicht alle Antwort auf einmal finden, zumal sich alles immer im Laufe der Zeit auch verändern wird. Und auch diese Veränderungen gehören dazu und brauchen Beachtung.

Dritter Schritt: Wer sind wir?
Wenn Sie nun einerseits langsam eine klarere Idee davon haben, wer Sie selbst sind und wer Ihr Kind ist, müssen Sie andererseits noch herausfinden, wie Sie die Beziehung zu Ihrem Kind und das Familienleben gestalten wollen:
Welche meiner Ziele und Werte, welche Lebensweisen will ich meinem Kind überhaupt vermitteln? Und welche Strategien habe ich dafür?

Ich empfehle Ihnen einen Weg zu gehen, der sich durch Warmherzigkeit, Entschlossenheit und Unterstützung auszeichnet, einen Weg, der die gesunde Entwicklung des ganzen Menschen mit seinem Körper und seinem Geist einschließt. Dieser Weg liegt nicht geebnet vor Ihnen und wird kein Spaziergang sein, sondern er führt als Entdeckungsreise mitten durch das wilde Gestrüpp des Lebens und erfordert immer wieder Ihre Entschlossenheit:

1. 
Gehen Sie mit gutem Beispiel voran! Ihr Kind wird vor allen Dingen das von Ihnen lernen, was Sie ihm authentisch vorleben und wie Sie wirklich sind, und weniger das, was Sie sagen.

2.
Fördern Sie bei Ihrem Kind sehr grundsätzlich ein Gefühl der Sicherheit und Verbundenheit mit Ihnen, indem Sie elterliche Präsenz zeigen. Lassen Sie Ihr Kind erleben, dass Sie es sehen, hören und ernst nehmen. Vermeiden Sie das Entstehen von anhaltendem Stress im Miteinander.

3.
Entwicklen Sie mit Hilfe von Entspannungsübungen und Achtsamkeit die Fähigkeit, Emotionen und Handlungsimpulse zu regulieren - bei sich selbst und dann immer wieder auch bei Ihrem Kind in Form von unterstützender Koregulation. Seien Sie der Fels in der Brandung, an dem sich Ihr Kind, wenn es emotional hoch hergeht, orientieren und festhalten kann.

4.
Schaffen Sie immer wieder Raum und Zeit für Gespräch, in denen auch schwierige Emotionen und Gefühle sein dürfen, ohne dass diese ausagiert werden. Richten Sie gemeinsam immer wieder den Blick darauf, wie Emotionen im Körper spürbar sind. Lassen Sie den Körper durch Übungen der wechselnden Anspannung und Entspannung zur Ruhe kommen.

5.
Messen Sie die Qualität der Gespräche vor allen Dingen daran, wie gut Sie selbst zuhören können und wie wenig Aussagen Sie über den anderen machen.

6.
Versuchen Sie immer wieder durch bewusstes und für Ihr Kind miterlebbares Mentalisieren zu einem tieferen Verstehen Ihres Kindes zu gelangen, indem Sie seine Perspektive aktiv einnehmen und sich vorstellen, wie sich die Situation für Ihr Kind anfühlen könnte, ohne jedoch vorschnell Verständnis zu entwickeln. Mentalisieren bedeutet darüber hinaus auch, dass Sie sich selbst und Ihr Handeln von außen betrachten und reflektieren, wie Ihr Kind Sie wohl erleben wird.

7.
Teilen Sie Ihre guten Interessen und Ihre wertvolle Lebenserfahrungen altersangemessen mit Ihrem Kind. Haben Sie den Willen und den Mut voranzugehen. Zeigen Sie Ihrem Kind auch , dass Interessen und Wünsche für ein größeres Ganzes immer wieder auch gezügelt werden müssen.

8.
Setzen Sie klar, verständlich und in ruhiger Weise Ihre Grenzen und unterstützen Sie Ihr Kind dabei, seine Grenzen zu erkennen.

9.
Übergeben Sie Ihrem Kind die Verantwortung für Lebensbereiche und einzelne Situationen, die es alleine bewältigen kann. Lassen Sie es in diesen Bereichen Entscheidungen treffen und tatsächliche Konsequenzen erfahren.

10.
Stehen Sie mit liebevollem Rat und Unterstützung bereit, vor allen Dingen wenn Dinge schief laufen. Denn genau das sind die Momente, in denen warmherzige, entschlossene und unterstützende Eltern gebraucht werden.

Auch bei guter Vorbereitung kommt es bei Entdeckungsreisen immer wieder zu Überraschungen und Schwierigkeiten, die nur schwer alleine zu bewältigen sind. Gott sei Dank müssen Sie diesen Weg ja auch nicht alleine gehen. Suchen Sie sich also rechtzeitig Begleiter, Unterstützer und gegebenenfalls auch professionelle Berater, damit Sie nicht unnötig im Unterholz des Alltags stecken bleiben.


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